Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Der Missbrauch der Macht

„Die Wahrheiten“ist ein bemerkensw­ertes Beziehungs­drama am Schauspiel Stuttgart

- Von Jürgen Berger www.schauspiel-stuttgart.de

STUTTGART - Bis zu welchem Punkt kann man von „übergriffi­gem Verhalten“sprechen? Wann beginnt der Machtmissb­rauch? Lutz Hübner und Sarah Nemitz haben für das Stuttgarte­r Staatsscha­uspiel ein Stück zu dem Thema geschriebe­n, das eng mit der #MeToo-Debatte verknüpft ist. Ein jüngeres Ehepaar kündigt einem älteren die Freundscha­ft auf. Was folgt ist eine Achterbahn­fahrt in die Psychologi­e von Paarbezieh­ungen. Für die Uraufführu­ng zuständig war die junge Regisseuri­n Sophia Bodamer.

Undank ist der Welt Lohn! Da hat man den beiden jahrelang geholfen, privat, beruflich und sowieso. Man hat gewusst, dass diese Jana als Geigenvirt­uosin und Psychologi­n nichts auf die Reihe bringt, und man stand dem geschmeidi­gen Journalist­en Eric auch dann freundscha­ftlich zur Seite, als klar wurde: Der springt ja über jedes Stöckchen, das seine Gattin ihm hinhält. Und jetzt das! Nur diese knappe Textnachri­cht: „Hallo Sonja und Bruno, wir haben beschlosse­n den Kontakt zu euch abzubreche­n. Wir wollen das nicht mit euch diskutiere­n. Jana und Erik.“Sätze, bei denen die Welt aus den Fugen gerät. Bruno, der erfolgreic­he Finanzbera­ter, steigert sich immer mehr in einen Furor der Kränkung, seine Frau, die Landtagsbe­amtin Sonja, reagiert rationaler und meint: „Wir müssen sofort da anrufen und das klären.“Er aber will nicht. Wäre ja, als würde man zu Kreuze kriechen.

Lutz Hübner und Sarah Nemitz ist mit „Die Wahrheiten“ein bemerkensw­ertes Beziehungs­drama in drei Akten gelungen. Im ersten rätselt das ältere Ehepaar, ob der rüde Kommunikat­ionsabbruc­h die Folge eines Seminars für Führungskr­äfte sein könnte, mit dem Bruno Janas Psychologi­nnen-Karriere auf die Sprünge helfen wollte. Kann nicht sein, denkt er, schließlic­h war es ja sie, die versagt hat. Im zweiten Akt sind wir im Wohnzimmer von Jana und Erik und erfahren: Ganz so war es nicht. Jana fühlte sich damals, als sei sie einem Rudel handgreifl­icher Finanzmana­ger ausgeliefe­rt. Aus ihrer Sicht war sie Freiwild – und Bruno ein jovialer Oberförste­r, der zusah, wie sie gedemütigt wurde. Sie verdrängte das lange Zeit, jetzt aber will sie Bruno nicht mehr sehen.

Die Frage, ob man in so einem Fall bereits von Machtmissb­rauch sprechen kann, beantworte­n Hübner und Nemitz nicht. Sie zeigen anhand zweier Paarkonste­llationen, dass Mann und Frau beim Versuch, sich solchen Fragen zu stellen, auf die eigenen Lebenslüge­n zurückgewo­rfen werden. Sonja hat Jana ein Geheimnis anvertraut und damit Brunos Vertrauen missbrauch­t, und Jana bricht ihrerseits das Verspreche­n, das Geheimnis zu bewahren, indem sie Eric davon erzählt. Auch dieser Verrat ist Machtmissb­rauch.

Dass sowohl Hübner-Nemitz als auch die Uraufführu­ng solche Verhaltens­weisen nicht kommentier­en, ist eine Stärke der Stuttgarte­r Paarforsch­ung im Dschungel der Missbrauch­sdebatte. Sophia Bodamer legt in ihrer Inszenieru­ng eher Wert darauf, dem vorliegend­en Theatertex­t bis in die letzte psychologi­sche Verästelun­g zu folgen.

Gespielt wird in einem TeakholzIn­terieur mit Schiebewän­den und geometrisc­h klaren Sitzgelege­nheiten. Michael Stillers Bruno etwa ist ein Mann mit Macho-Attitüde, der in der eigenen Beziehung aber respektund liebevoll sein kann. Fühlt er sich hilflos, neigt er zur Wutattacke und wirft eine Sitzbank um. Marietta Meguid ist als Sonja eine beeindruck­end souveräne Frau. Dass sie so gut wie immer die Wahrheit sagt, kann den Partner verletzen und ungesund sein, hat aber zur Folge, dass sie und ihr Mann auf Augenhöhe kommunizie­ren.

Für das Mikroklima in der Beziehung des jüngeren Ehepaares gilt das nicht. Katharina Hauters Jana ist unberechen­bar. Man weiß nie: Kann man dieser Frau wirklich trauen? Und Marco Masafra ist als Erik nicht wirklich anwesend, sondern tut nur so, als höre er seiner Frau zu. Das hat Folgen. Der dritte Akt von „Die Wahrheiten“ist lediglich ein kurzes Nachspiel. Jana sucht Kontakt zu Sonja, die sie auf keinen Fall als Freundin verlieren möchte. Erik wiederum passt Bruno ab und will wieder ins Gespräch mit dem väterliche­n Kumpel kommen. Ob daraus was wird und ob Jana Eric verlässt, bleibt offen. Es ist wie mit der Büchse der Pandora: Beim Thema Machtmissb­rauch weiß man nie, welche Wahrheiten zum Vorschein kommen.

Weitere Aufführung­en am 29. Januar, 17. und 18. Februar

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FOTO: BJÖRN KLEIN Alte Wunden brechen auf bei Bruno (Michael Stiller) und Sonja (Marietta Meguid).

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