Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der Missbrauch der Macht
„Die Wahrheiten“ist ein bemerkenswertes Beziehungsdrama am Schauspiel Stuttgart
STUTTGART - Bis zu welchem Punkt kann man von „übergriffigem Verhalten“sprechen? Wann beginnt der Machtmissbrauch? Lutz Hübner und Sarah Nemitz haben für das Stuttgarter Staatsschauspiel ein Stück zu dem Thema geschrieben, das eng mit der #MeToo-Debatte verknüpft ist. Ein jüngeres Ehepaar kündigt einem älteren die Freundschaft auf. Was folgt ist eine Achterbahnfahrt in die Psychologie von Paarbeziehungen. Für die Uraufführung zuständig war die junge Regisseurin Sophia Bodamer.
Undank ist der Welt Lohn! Da hat man den beiden jahrelang geholfen, privat, beruflich und sowieso. Man hat gewusst, dass diese Jana als Geigenvirtuosin und Psychologin nichts auf die Reihe bringt, und man stand dem geschmeidigen Journalisten Eric auch dann freundschaftlich zur Seite, als klar wurde: Der springt ja über jedes Stöckchen, das seine Gattin ihm hinhält. Und jetzt das! Nur diese knappe Textnachricht: „Hallo Sonja und Bruno, wir haben beschlossen den Kontakt zu euch abzubrechen. Wir wollen das nicht mit euch diskutieren. Jana und Erik.“Sätze, bei denen die Welt aus den Fugen gerät. Bruno, der erfolgreiche Finanzberater, steigert sich immer mehr in einen Furor der Kränkung, seine Frau, die Landtagsbeamtin Sonja, reagiert rationaler und meint: „Wir müssen sofort da anrufen und das klären.“Er aber will nicht. Wäre ja, als würde man zu Kreuze kriechen.
Lutz Hübner und Sarah Nemitz ist mit „Die Wahrheiten“ein bemerkenswertes Beziehungsdrama in drei Akten gelungen. Im ersten rätselt das ältere Ehepaar, ob der rüde Kommunikationsabbruch die Folge eines Seminars für Führungskräfte sein könnte, mit dem Bruno Janas Psychologinnen-Karriere auf die Sprünge helfen wollte. Kann nicht sein, denkt er, schließlich war es ja sie, die versagt hat. Im zweiten Akt sind wir im Wohnzimmer von Jana und Erik und erfahren: Ganz so war es nicht. Jana fühlte sich damals, als sei sie einem Rudel handgreiflicher Finanzmanager ausgeliefert. Aus ihrer Sicht war sie Freiwild – und Bruno ein jovialer Oberförster, der zusah, wie sie gedemütigt wurde. Sie verdrängte das lange Zeit, jetzt aber will sie Bruno nicht mehr sehen.
Die Frage, ob man in so einem Fall bereits von Machtmissbrauch sprechen kann, beantworten Hübner und Nemitz nicht. Sie zeigen anhand zweier Paarkonstellationen, dass Mann und Frau beim Versuch, sich solchen Fragen zu stellen, auf die eigenen Lebenslügen zurückgeworfen werden. Sonja hat Jana ein Geheimnis anvertraut und damit Brunos Vertrauen missbraucht, und Jana bricht ihrerseits das Versprechen, das Geheimnis zu bewahren, indem sie Eric davon erzählt. Auch dieser Verrat ist Machtmissbrauch.
Dass sowohl Hübner-Nemitz als auch die Uraufführung solche Verhaltensweisen nicht kommentieren, ist eine Stärke der Stuttgarter Paarforschung im Dschungel der Missbrauchsdebatte. Sophia Bodamer legt in ihrer Inszenierung eher Wert darauf, dem vorliegenden Theatertext bis in die letzte psychologische Verästelung zu folgen.
Gespielt wird in einem TeakholzInterieur mit Schiebewänden und geometrisch klaren Sitzgelegenheiten. Michael Stillers Bruno etwa ist ein Mann mit Macho-Attitüde, der in der eigenen Beziehung aber respektund liebevoll sein kann. Fühlt er sich hilflos, neigt er zur Wutattacke und wirft eine Sitzbank um. Marietta Meguid ist als Sonja eine beeindruckend souveräne Frau. Dass sie so gut wie immer die Wahrheit sagt, kann den Partner verletzen und ungesund sein, hat aber zur Folge, dass sie und ihr Mann auf Augenhöhe kommunizieren.
Für das Mikroklima in der Beziehung des jüngeren Ehepaares gilt das nicht. Katharina Hauters Jana ist unberechenbar. Man weiß nie: Kann man dieser Frau wirklich trauen? Und Marco Masafra ist als Erik nicht wirklich anwesend, sondern tut nur so, als höre er seiner Frau zu. Das hat Folgen. Der dritte Akt von „Die Wahrheiten“ist lediglich ein kurzes Nachspiel. Jana sucht Kontakt zu Sonja, die sie auf keinen Fall als Freundin verlieren möchte. Erik wiederum passt Bruno ab und will wieder ins Gespräch mit dem väterlichen Kumpel kommen. Ob daraus was wird und ob Jana Eric verlässt, bleibt offen. Es ist wie mit der Büchse der Pandora: Beim Thema Machtmissbrauch weiß man nie, welche Wahrheiten zum Vorschein kommen.
Weitere Aufführungen am 29. Januar, 17. und 18. Februar