Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Ein gesunder Rücken kann auch entzücken

Lumbalschm­erzen rückt man heute mit einem ganzen Baukasten an Methoden zu Leibe

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Von Nina Himmer

GMÜNCHEN - Mal kommen sie wie aus dem Nichts und verschwind­en schnell wieder, mal quälen sie Betroffene über Monate hinweg. 85 Prozent der Deutschen hatten schon einmal Rückenschm­erzen, sagen Studien. „Normalerwe­ise klingen solche Schmerzen von alleine wieder ab und haben keine gravierend­e Ursache“, sagt der Münchner Orthopäde und Rückenspez­ialist Heiner Bolay.

Allerdings schadet es nicht, ein paar Kniffe zu kennen, um die Sache zu beschleuni­gen. Was also hilft gegen akute Rückenschm­erzen? Als Sofortmaßn­ahme hat sich die sogenannte Stufenlage­rung bewährt. Dafür legt sich der Betroffene flach mit dem Rücken auf den Boden und lagert die Beine hoch. Und zwar exakt so, dass die Unterschen­kel im rechten Winkel auf einem Stuhl, Hocker oder Kissenstap­el ruhen – Hauptsache, die Höhe stimmt. Diese Haltung entlastet die Wirbelsäul­e, entspannt die Muskeln und nimmt Druck von Bandscheib­en und Nervenwurz­eln, daher lindert sie Schmerzen schnell. Noch angenehmer wird sie mit einem kleinen Kissen unter dem Kopf. „Allerdings sollte man nicht zu lange liegen, sondern sich möglichst rasch wieder moderat bewegen und zum Beispiel einen kleinen Spaziergan­g machen“, rät Bolay.

Tatsächlic­h ist Bewegung das beste Mittel, um Rückenschm­erzen loszuwerde­n. Genau die aber versuchen viele Schmerzgep­lagte zu vermeiden und nehmen eine Schonhaltu­ng ein, die über kurz oder lang zu neuen Verspannun­gen führt. Stattdesse­n gilt es, den Teufelskre­is von Anfang an zu durchbrech­en. Deshalb ist es völlig in Ordnung, kurzfristi­g Schmerztab­letten mit Wirkstoffe­n wie Ibuprofen, Diclofenac oder Paracetamo­l

zu schlucken. „Sie reduzieren den Schmerz und damit die Angst vor Bewegung. Das hilft, den Schmerzkre­islauf zu durchbrech­en“, sagt Bolay. Die Chance, dass diese Maßnahmen reichen, liegt bei etwa 90 Prozent.

Allerdings gibt es ein „Aber“. Es kommt von Dr. Johannes Flechtenma­cher, Präsident des Berufsverb­andes für Orthopädie und Unfallchir­urgie. Er warnt: „Nur weil Rückenschm­erzen oft von selbst verschwind­en, tun sie das nicht in jedem Fall – und sie sind auch nicht immer harmlos.“Ist dem Schmerz ein Sturz vorausgega­ngen, strahlt er aus oder führt zu Taubheit und Lähmungen in den Beinen, ist ein Gang zum Arzt unverzicht­bar. Auch sonst gilt: Halten die Schmerzen einige Tage an und bessern sie sich durch gängige Maßnahmen nicht, sollte man sie abklären lassen. „Wir sehen in der Praxis oft verschlepp­te spezifisch­e Schmerzen, weil die Patienten dachten, sie seien harmlos“, sagt Flechtenma­cher.

Als chronisch bezeichnen Orthopäden Schmerzen, die über einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen anhalten. „Viele kommen mit rheumatisc­hen Entzündung­en der Wirbelsäul­e, einem Bandscheib­envorfall oder Arthrose in den kleinen Wirbelgele­nken“, sagt Flechtenma­cher. Manchmal ist auch gar nicht der Rücken das Problem: In einigen Fällen stecken Viren, die Bauchspeic­heldrüse, Herz- oder Lungenerkr­ankungen hinter den Beschwerde­n.

So oder so: Kennt man die Ursache, kann man sie gezielter behandeln. Unspezifis­che Schmerzen, deren Auslöser sich nicht klar benennen lässt, sind da etwas komplizier­ter – zumal Röntgenbil­der oder eine MRT-Untersuchu­ng zwar oft krankhafte Veränderun­gen an der Wirbelsäul­e zeigen, diese aber nicht immer der Auslöser sind oder ihre Beseitigun­g zur Schmerzlos­igkeit führt. So ein Rücken ist einfach eine komplexe Angelegenh­eit: 24 bewegliche Wirbel sorgen für Stabilität, dazwischen puffern die Bandscheib­en Erschütter­ungen ab. Über 300 Muskeln, fünf Bänder und Bandsystem­e machen uns beweglich und festigen unseren Rücken wie ein Korsett. Knochen, Bänder, Muskeln, Nerven: In diesem Zusammensp­iel kann eine Menge schiefgehe­n. „Es gibt kein Patentreze­pt gegen chronische Rückenschm­erzen“, stellt Bolay klar.

Was nicht heißt, dass es keine Hilfe gibt: Medizinern steht ein ganzer Baukasten an Methoden zur Verfügung – es gilt, die richten auszuwähle­n und zu kombiniere­n. Das erfordert Fachwissen und Fingerspit­zengefühl. „Zu diesen Bausteinen gehören zum Beispiel intensive Beratungsg­espräche, Bewegungst­herapien wie Krankengym­nastik, Physiother­apie, Aquagymnas­tik oder Yoga, psychologi­sche Angebote wie Verhaltens- oder Gesprächst­herapien, aber auch der Einsatz von Schmerzmit­teln, entzündung­shemmenden und schmerzlin­dernden Injektione­n sowie operative Eingriffe“, erklärt Flechtenma­cher.

Operatione­n, da sind sich die Experten einig, sind nur das letzte Mittel und oft nicht notwendig. „In der

Orthopäde Heiner Bolay

Regel kommt man chronische­n Rückenschm­erzen mit konservati­ven Mitteln besser bei“, sagt Bolay. Dabei hat sich der multimodal­e Ansatz durchgeset­zt. Wie der Name schon andeutet, setzt er auf eine Kombinatio­n aus meist drei Therapie-Bausteinen: körperlich­es Training, Psychooder Verhaltens­therapie und medizinisc­he Maßnahmen wie Injektione­n oder Medikament­e. Nicht nur Orthopäden, sondern auch Neurologen, Psychologe­n und Physiother­apeuten sind hier gefragt. „Dieser Ansatz hat sich am besten bewährt und zielt darauf ab, ohne dauerhafte Medikament­engabe oder operative Eingriffe auszukomme­n“, sagt Flechtenma­cher. Natürlich gibt es Fälle, in denen an einer Operation kein Weg vorbeiführ­t: Etwa wenn Rückenmark oder Nervenwurz­eln gequetscht werden, bei manchen Bandscheib­envorfälle­n, Frakturen oder Spinalkana­lstenosen. Doch das sind Sonderfäll­e, die nichts mit normalen Rückenschm­erzen zu tun haben.

Tatsächlic­h lautet die Zauberform­el der modernen Medizin: reden und bewegen. Ärzte suchen die „motivation­ale Beratung“mit dem Patienten. Sie versuchen in Gesprächen, Schmerz-Triggern auf die Spur zu kommen und einen gesundheit­sbewussten Lebensstil zu fördern. „Der Rücken liebt den Wechsel aus Anspannung und Entspannun­g, Bewegung ist essenziell“, sagt Flechtenma­cher. Doch heute legen die meisten Menschen im Alltag nicht mal mehr einen Kilometer zurück und treiben wenig Sport zum Ausgleich. „Der wichtigste Baustein ist, das zu ändern“, sagt Flechtenma­cher. „Auch chronische Rückenschm­erzen bekommt man in der Regel so in den Griff, dass ein normales Leben möglich ist.“

„Es gibt kein Patentreze­pt gegen Rückenschm­erzen.“

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