Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Steinmeier warnt vor neuem Rassenhass
Am Jahrestag der Auschwitz-Befreiung fordert der Bundespräsident ein aktives Erinnern
OSWIECIM (dpa) - Das Morden der Nationalsozialisten in Auschwitz verpflichtet die Deutschen nach Auffassung von Bundespräsident FrankWalter Steinmeier, sich gegen alle Formen von neuem Antisemitismus zu stemmen. Bei einem Besuch des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers, das Deutsche während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Polen aufgebaut hatten, sagte Steinmeier am Montag, man dürfe nicht nur über die Vergangenheit reden, sondern müsse es als bleibende Verantwortung begreifen, „den Anfängen zu wehren, auch in unserem Lande“. Dies sei auch die
Bitte der Überlebenden. „Die Zeiten sind andere heute, die Worte sind andere, die Taten sind andere, aber manchmal, wenn wir in diese Zeit schauen, haben wir den Eindruck, dass das Böse noch vorhanden ist.“
Steinmeier nahm an der internationalen Gedenkveranstaltung am 75. Jahrestag der Befreiung des Lagers teil. Am 27. Januar 1945 hatten Einheiten der Roten Armee Auschwitz-Birkenau erreicht und rund 7500 noch lebende Häftlinge befreit. Der Name Auschwitz hat sich als Synonym für den Holocaust und Inbegriff des Bösen weltweit ins Bewusstsein eingebrannt. Allein dort brachten die Nationalsozialisten
mehr als eine Million Menschen um, zumeist Juden.
Auschwitz sei „ein Ort, an dem wir Deutsche die Last der Geschichte spüren“, sagte Steinmeier bei der Feierstunde, an der Delegationen aus rund 60 Ländern und Organisationen sowie 200 Überlebende teilnahmen. Man müsse sich erinnern, „um im Hier und Jetzt vorbereitet zu sein“, betonte er. „Auschwitz, das ist die Summe von völkischem Denken, Rassenhass und nationaler Raserei.“Polens Präsident Andrzej Duda forderte, die Erinnerung an das Gräuel zu bewahren und eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Duda warnte in seiner Rede vor einer Umdeutung der Geschichte. „Das Verzerren der Geschichte, das Leugnen des Genozids und des Holocausts sowie eine Instrumentalisierung von Auschwitz zu jedwedem Ziel sind gleichbedeutend mit einer Entehrung des Gedenkens an die Opfer.“
Auch in Berlin wurde am Montag der Opfer des Holocausts gedacht. Am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas gedachten die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli und die Grünen-Bundesvorsitzende Annalena Baerbock der Toten, der Rabbiner Andreas Nachama sprach ein Gebet.
Von Ellen Hasenkamp
OSWIECIM - Beim Gedenken zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz stehen die Überlebenden des ehemaligen Konzentrationslagers im Mittelpunkt. Auch die aktuelle politische Lage rückt in den Blick.
„Am liebsten“, sagt Hermann Höllenreiner kurz vor dem Abflug in Berlin „will ich gar nicht wieder dahin“. Dahin, das ist Auschwitz. Der kleine Mano war neun Jahre alt, als er, seine Familie und Hunderte andere Sinti am 5. März 1943 in der Heimatstadt München zusammengetrieben und ins Konzentrationslager geschickt wurden. Er war in Auschwitz, in Ravensbrück und schließlich in Sachsenhausen. 36 Mitglieder seiner Familie wurden getötet, er überlebte. „I hab a Glück g’habt“, erzählt der Mann aus Bayern.
Erzählen, das konnte Höllenreiner lange nicht, zunächst aber sogar ganz buchstäblich nicht. Der junge Mano war verstummt. In Frankreich, wo er nach dem Krieg kurz in einer Pflegefamilie lebte, kam er, schwer traumatisiert, vorübergehend in die Kinderpsychatrie.
Jetzt aber, Jahrzehnte nach Auschwitz, redet Höllenreiner, in Schulklassen zum Beispiel und am Montag auch mit dem Bundespräsidenten, bevor er zusammen mit ihm und weiteren Überlebenden nach Polen reist. „Das ist eine große Ehre für mich“, sagt der 86-Jährige, der nie richtig zur Schule gegangen ist, weil ihm die Nazis auch dies genommen hatten. Und deswegen hat er auch nochmal Ja gesagt zu der Reise an den Schreckensort, an den er 2003 zum ersten Mal wieder zurückgekehrt war und den er nun zum 15. Mal wieder besucht. Und er hat Ja gesagt zu einem Gespräch mit einer Gruppe von Journalisten, bevor er an Bord des Präsidentenflugzeugs steigt.
In Auschwitz hat er damals als Junge Gras gestochen, mit schweren Schaufeln hantiert „und nix zum Essen und nix zum Trinken“. Er musste aufräumen und fegen und dabei, so erzählt er, hat er einmal ein Baby gefunden. Es war tot.
Vorsichtig klettert Höllenreiner am Rand des Parkplatzes der Gedenkstätte
Auschwitz aus dem Delegationsbus. Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender stehen schon am Eingang zur Gedenkstätte. Hinter ihnen ist der berühmte Schriftzug zu sehen: „Arbeit macht frei“. Auch für den Bundespräsidenten ist es das erste Mal an diesem Ort. Gekommen ist er als Vertreter Deutschlands zur Feier am 75. Jahrestag der Befreiung des Lagers.
Steinmeier hat aber, vor der Zeremonie mit Überlebenden und offiziellen Vertretern aus rund 50 Staaten, noch diesen Rundgang eingefügt. Kurz steht Steinmeier zusammen mit Höllenreiner vor der Tür, reibt dessen Arm, wo unter Jacke, Pullover und weißem Hemd die eintätowierte Nummer verborgen ist. Z – 3526.
Dann gehen sie los über die unebenen Wege zwischen den Baracken.
Später, in Block vier, bleibt Höllenreiner im ersten Stock stehen. „Ich muss da nicht mehr hoch“, sagt er. „Ich kenne das alles.“Die Haare der Ermordeten, die in großen Glaskästen zu sehen sind, die ausgetretenen Treppenstufen, die Wucht der Erinnerung.
Die Erinnerung wach zu halten, steht auch im Mittelpunkt der Gedenkfeier. Ein riesiges weißes Zelt ist über das Eingangstor des früheren Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gespannt. Hatten vor einigen Tagen noch die Politiker das Wort bei der Zeremonie in Yad Vashem, sprechen in Auschwitz vor allem die Überlebenden. Sie erzählen von grausamen Wächtern, vom Hunger, von Läusen, von Folter. Und sie alle appellieren, nie zu vergessen. Viele der hochbetagten Zuhörer haben weiß-blaue Schals um, das Muster der Häftlingskleidung tragen sie als Symbol der Lebenden.
Auch für Steinmeier geht es hier, wie schon in seiner Yad-Vashem-Rede, nicht nur um die Vergangenheit. „Diese Erinnerung ist aber auch Mahnung“, schreibt er in das Gästebuch. „Wer den Weg in die Barbarei von Auschwitz kennt, der muss den Anfängen wehren.“
Denn Anfängen wehren, „auch in unserem Land“, setzt er später in einem Statement vor der Kulisse der Backsteingebäude und Stacheldrahtzäune ausdrücklich hinzu. Auch Höllenreiner
beunruhigen diese Entwicklungen. „Es ist eine Schande für Deutschland, dass es so viele Nazis schon wieder gibt“, sagt er.
An der sogenannten Todeswand zwischen den Blocks zehn und elf, da, wo Tausende erschossen wurden, legt Steinmeier im Namen seines Landes einen Kranz nieder. Er kniet, als er die Schleife richtet und verharrt lange bevor er sich umdreht und langsam zu seiner wartenden Frau zurückgeht.
Höllenreiner hat zugesehen und macht nun ein paar Schritte auf den Bundespräsidenten zu. Zu dritt stehen sie eng beisammen – und fast wirkt es, als würde Höllenreiner, der Mann mit der vierstelligen Häftlingsnummer auf dem Arm, dem Bundespräsidenten ein wenig Halt geben.