Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der große Kontrast
Europaarchitektur und Jugendstilbauten wollen in Brüssel nicht so recht zusammenpassen – BANAD Festival lädt zu Hausbegehungen ein
Von Uwe Kammann
GBRÜSSEL (epd) - Im Fernsehen sieht Brüssel meist so aus: Das kreuzförmige Kurvenhaus der Europäischen Kommission, der Würfel des Ratsgebäudes, das Europäische Parlament mit Glaskonstruktion auf einer Ellipse. Wegen dieser Grundform wird es von den Brüsselern gerne als „Caprice des Dieux“verspottet, nach der Schachtel des gleichnamigen Weichkäses.
In diesem Spitznamen schwingt beißende Kritik mit. Und zwar an dem, was Stadtplaner „Brüsselisierung“nennen. Gemeint ist die Überlagerung alter Stadtviertel durch neue, als gesichtslos empfundene Großbauten. Ihnen sind zahlreiche Straßenzüge mit vielfältigen Stadthäusern zum Opfer gefallen.
Albert Dewalque, Architekt mit viel Erfahrung bei der Restaurierung alter Häuser und Brüsselführer, beschreibt dies nüchtern. Das alles habe Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre eingesetzt, sagt er. Man habe den sich schnell vergrößernden europäischen Institutionen den nötigen Arbeitsraum bieten wollen. Exzellente Architektur habe da keine Rolle gespielt. Gelungene EU-Bauten fänden sich woanders, sagt er: beim kühn geschwungenen Europarlament in Straßburg, beim markanten Doppelturm der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main.
„Aufgeblasen“, „nur scheinbar um Transparenz bemüht“, so charakterisiert auch Christian Kühn, Dekan der Architekturfakultät der Technischen Universität Wien, das architektonische Erscheinungsbild der EU. Eine identitätsstiftende Wirkung gehe von diesen gebauten „Metastasen“nicht aus.
Architekturliebhaber wenden sich in Brüssel lieber den Gebäuden der Moderne an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu. Die Stadt war damals Vorreiter und stilbildend beim Aufbruch der Bautradition: Es entstand die „Art Nouveau“, wörtlich: Neue Kunst. In Deutschland wurde der neuartige Baustil etwas blumiger „Jugendstil“genannt, in Österreich „Secessionsstil“, in Katalonien „Modernisme“.
In dieser Zeit entstand ein reiches Erbe an zunächst ornamentalen und floralen, immer schwungvoll-dekorativen und oft raffiniert-eleganten Ausdrucksformen – in dieser Art und Vielfalt außer in Brüssel nur noch in Barcelona und Wien zu finden. Fast hätte Brüssel dieses reiche Erbe verspielt: Musterbeispiele wie das „Volkshaus“der Arbeiterpartei wurden komplett abgerissen, ebenso wie viele andere der oft schmalen Stadthäuser. Ihre ursprüngliche Zahl halbierte sich, nach Schätzungen auf gut 500.
Inzwischen werden die Jugendstilhäuser – und ihre schlichteren
Nachfahren des Art Déco – als Juwelen geschätzt. Einige sind sogar Unesco-Weltkulturerbe und damit auch touristische Attraktionen. Für sie legt sich die Stadt mittlerweile besonders ins Zeug: Zum vierten Mal veranstaltet sie in diesem Jahr das Festival „BANAD“(Brussels Art Nouveau & Art Déco).
Die große Besonderheit: An drei Wochenende im März lassen sich die schönsten, interessantesten und typischsten Häuser nicht nur von außen unter kundiger Führung besichtigen, sondern auch von innen. Einige öffnen ihre Türen – darunter auch jene, hinter denen Privatleute wohnen.
Zu ihnen zählt auch der Belgier Olivier Berckmans. Er ist Kunsthistoriker, widmet sich den alten Bauten und kümmert sich mit Liebe und Begeisterung um das Brüsseler Architekturerbe. Sein eigenes Haus ist ein Kuriosum, weil es mit einem inneren Knick zu zwei Straßenseiten schmale Fassaden zeigt.
Der Künstler Philippe Leblanc wiederum residiert in einem prächtigen Art-Déco-Wohnhochhaus, das mit sterngezacktem Turm seine Adresse, Rond-Pont de l Etoile, aufnimmt und unter der krönenden Kuppel einen Gemeinschaftsraum für die 20 Mietparteien bietet – eine Anfang der 30er-Jahre noch ungewohnte Wohnform. „Eine wunderbare Mischung von Gemeinsamkeit, Großzügigkeit, Stil und Freiheit“, schwärmt Leblanc.
Puren Individualluxus erlebt der Besucher hingegen in der inzwischen perfekt renovierten Villa Empain. Der Sohn des steinreichen und jugendstilbegeisterten Stahl-Magnaten Edouard Empain ließ sich das Gebäude Anfang der 30er-Jahre vom Architekten Michel Polak errichten. Es entstand eine in jeder Hinsicht kostbare Art-Déco-Residenz mit Blattgold auf den Fensterrahmen, die durch edle Klarheit beeindruckt. Inzwischen beherbergt die Villa die Bhogossia-Stiftung, die sich vor allem um Ost-West-Kulturvermittlung bemüht.
Zu den bekanntesten Gebäuden gehört das Hotel Solvay, ein repräsentatives Stadthaus, erbaut von Victor Horta (1861-1947). Er war der Stararchitekt der Epoche, seine rund 50 Bauten prägen das Brüsseler Jugendstil-Bild. Horta war zu seiner Zeit geradezu umstürzlerisch modern, er liebte unverkleidete Stahlstützen und dünne, vorgehängte Fassaden mit viel Glas. Er legte auf funktionale Raumfolgen ebenso viel Wert wie auf elegante Details bei der Ausstattung, sodass bewohnbare Gesamtkunstwerke zu bestaunen sind.
Der Architekt Albert Dewalque stellt in Brüssel mittlerweile Anzeichen einer Bewusstseinsänderung fest. „Es gibt Anzeichen dafür, dass Originalität, Schönheit, Anmut der historischen Bauten mehr gewürdigt werden.“Der Touristenführer und Fachmann für alte Bauten wirbt für ein gezieltes, behutsames und räumlich klar definiertes Einfügen neuer Bürogebäude, sowohl der EU als auch anderer Großeinrichtungen. Doch dafür, sagt er, „fehlt ein Plan“.
Das bietet an den Wochenenden vom 14. bis 29. März Spaziergänge und Führungen durch normalerweise nicht zugängliche Art-Nouveau- und ArtDéco-Gebäude. Dazu gibt es ein vielfältiges Programm.