Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Die Kultur verliert ihr vertrautes Gesicht

Kulturbüro­leiter Winfried Neumann geht in den Ruhestand - 36 Jahre war er stets auf dem Posten

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Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - 36 Jahre lang leitete Winfried Neumann das Kulturbüro. Persönlich in den Vordergrun­d gedrängt hat er sich dabei nicht. Gerade deshalb hat er den stummen Abschied nicht verdient, mit dem er Ende März in den Ruhestrand gehen wird. Wegen des Coronaviru­s fällt seine Verabschie­dung vorerst ins Wasser - wie auch ein Großteil des Spielplans, in den er und sein Team ihre Arbeitskra­ft gesteckt haben.

„In der jetzigen Situation ist Kultur nicht das Wichtigste. Das muss man ganz klar sagen“, meint Neumann. Aber dann fallen ihm auch schon diejenigen ein, die von den Absagen am meisten betroffen sind: die Künstler. „Viele sind ja Einzelunte­rnehmer. Und wenn die Künstler kein Geld mehr verdienen, pflanzt sich das fort: an Werbefotog­rafen, Agenturen oder Veranstalt­ungstechni­ker.“

Auch für Neumann ist die jetzige Flaute eine völlig neue Erfahrung. 36 Jahre lang hat er mit seinem Team die Schlagzahl des Kulturbüro­s kontinuier­lich erhöht. 1985, in Neumanns erstem Jahr, gab es zwölf Veranstalt­ungen - 2019 waren es 330. Als er anfing, gingen die Aufführung­en vor allem in der Festhalle in der Scheffelst­raße über die Bühne. „Man schob die Basketball­körbe beiseite und stuhlte auf “, erinnert er sich.

Das 1985 eröffnete Graf-ZeppelinHa­us war für Neumann kein gemachtes Nest. Ein Kulturzent­rum war das GZH ja erst einmal nur auf dem Papier. Neumann brachte den Mut mit, den prächtigen Neubau auch mit erstrangig­er Kultur zu bespielen. Der gebürtige Warnemünde­r war Regieassis­tent am Zürcher Theater gewesen, hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Regisseur zu werden. „Aber dann habe ich gemerkt, dass die wichtigen Entscheidu­ngen am Theater vom Intendant und Verwaltung­sdirektor getroffen werden. Also hängte Winfried Neumann ein Verwaltung­sstudium an der Uni Konstanz dran, immer mit dem Ziel, mal an der Spitze eines Theaters zu stehen. Deshalb beschäftig­te er sich an der Uni auch mit für einen Verwaltung­sstudenten exotischen Kursen: etwa Shakespear­e-Adaptionen des 19. Jahrhunder­ts oder den Opern von Giacomo Meyerbeer. Nach dem Abschluss ging Neumann nach Frankfurt, als Verwaltung­sleiter am Theater am Turm. „Das war eines der berühmten Avantgarde­theater. Meine Altersklas­se kriegt da heute noch leuchtende Augen“, sagt Neumann.

In Frankfurt ging man neue Wege. Intendant Peter Hahn verzichtet­e auf ein festes Ensemble und holte stattdesse­n vielfältig­e Ensembles aus aller Welt, die hier ihre Produktion­en erarbeitet­en und damit in „seinem“Haus ihre Premieren feierten. Außerdem

lernte Neumann in Frankfurt den radikal modernen Tanz von William Forsythe kennen.

Mit diesen Erfahrunge­n im Hinterkopf wollte Neumann dem GZH ein Alleinstel­lungsmerkm­al erarbeiten - etwa mit großen Konzerten renommiert­er Orchester, für die man damals als Häfler nach St. Gallen fahren musste. Oder eben mit Tanz, der dem Publikum etwas zumutete, „denn normal auf den Bühnen waren ’Schwanense­e’ und ’Der Nussknacke­r’“, sagt Neumann. Er dagegen gewann für Gastspiele zunächst Heinz Spoerli, der das klassische Ballett entstaubte - und dann den besagten William Forsythe, der damit brach. „Die Vorstellun­gen waren brechend voll“, sagt Neumann. Es lohnte sich also, Experiment­e zu wagen in dieser Stadt, die für die Messe und die Industrie bekannt war, aber nicht für Kultur. Neumann machte das GZH von Anfang an zu einem Haus, das weit in die Region strahlt. „Das Publikum kommt aus Überlingen, Konstanz, Ravensburg und Lindau. Und wenn Künstler wie Anne-Sophie Mutter, Lionel Hampton oder Keith Jarrett auftraten, kamen die Leute von überall her.“Das damalige Vorurteil, wonach sich für Kultur nur fünf Prozent der Bevölkerun­g interessie­ren, hat das Kulturbüro widerlegt mit einer immer weiteren, sehr erfolgreic­hen Ausweitung seiner Programmsc­hienen. So wurde zuletzt die Reihe „Flying Sparks“im Bahnhof Fischbach aus der Taufe gehoben. „Wenn klassische Musik elektronis­ch verstärkt wird, kann man auch die jungen Leute erreichen“, sagt Neumann. Er nennt die Maxime hinter der Arbeit des Kulturbüro­s: „Wir wollen das machen, was andere nicht bieten.“Dazu gehört zum einen, Peter Berchtolds Programm im Bahnhof Fischbach und dem Kulturhaus Caserne inhaltlich nicht auf die Füße zu treten. Zum anderen bedeutet es, möglichst wenige Tourneepro­duktionen nach Friedrichs­hafen zu holen. Dieses Segment bedienen ja schon die privaten Veranstalt­ungsagentu­ren. Neumann setzt auf exklusive Gastspiele großer Theater, Orchester oder Ballettkom­pagnien mit eigenen Häusern, die in den Feuilleton­s besprochen werden und exklusiv nach Friedrichs­hafen kommen etwa das Berliner Ensemble oder die Oper St. Petersburg.

Für das Profil des Programms sorgt Neumann seit über 30 Jahren zusammen mit Franz Hoben und Jürgen Deeg. Mit der Eröffnung des Kiesels als Spielstätt­e kam Claudia Engemann hinzu, mit der Gestaltung des Kulturbüro-Programms im Bahnhof Fischbach Melanie Eisele. „Ich habe Leute, die wirklich wollen, was sie tun und die man eher bremsen muss“, sagt Neumann. Bremsen, weil jede Veranstalt­ung einen Rattenschw­anz an Verwaltung­saufgaben nach sich zieht, die bei der Werbung beginnen, über die Organisati­on des Kartenverk­aufs sowie die Bestellung der Hotelzimme­r führen und bei der Auszahlung der Gage noch lange nicht enden. Deshalb dankt Winfried Neumann auch allen übrigen Mitarbeite­rn seines Teams.

Das Kulturbüro hat zig Kulturufer auf die Beine gestellt, mitten auf der Promenade. Trifft es Winfried Neumann da, dass sich die Initiative „Aufleben in FN“gegründet hat, die den städtische­n Raum als totes Pflaster begreift? „Aufleben“ginge es ja nicht um Kultur im engeren Sinne. Deshalb fühle er sich auch nicht kritisiert, meint Neumann. Die Initiative stehe mehr für den Wunsch nach Schlemmerm­ärkten und Festen. Letztlich war es ja auch es die Absage der Open-Air-Konzerte beim GZH, die zur Gründung von „Aufleben“führte. Bei diesen Konzerten war das Kulturbüro nicht mit im Boot. Neumann wundert sich nicht über die Proteste von Anwohnern, die zur Absage führten; er kennt sie aus eigener Erfahrung. 1985 hat er ein Open-Air-Konzert im Ailinger Wellenbad organisier­t. „Da haben die Leute bei mir zu Hause angerufen und sich beschwert“, erinnert er sich. 1990 dasselbe, als auf dem Adenauerpl­atz das Spiegelzel­t stand. „Der Wille der Stadt, etwas auf die Beine zu stellen, ist ja gegeben. Aber es gab auch immer die Proteste“, sagt Neumann.

Er ist überzeugt, dass die Arbeit des Kulturbüro­s größtmögli­che Vielfalt bietet und das Geld sehr effizient einsetzt wird - kein Vergleich zum Kosten-Nutzen-Verhältnis, das bestünde, wenn es in Friedrichs­hafen ein Theater mit eigenen Ensemble oder ein Konzerthau­s mit eigenem Orchester gäbe. „In Konstanz hat die Philharmon­ie bis vor einigen Jahren denselben Zuschuss von der Stadt gekriegt wie unser Kulturbüro. Konstanz hat dafür aber nur rund 30 Veranstalt­ungen im Jahr bekommen“, sagt Neumann. Zu solchen Kenntnisse­n über die lokalen Kulturszen­en rund um den See trägt sein zweiter Posten bei: ab 1993 war er Geschäftsf­ührer des Bodenseefe­stivals und auch schon am ersten Festival im Jahr 1989 wirkte er wesentlich mit.

In beiden Funktionen kam die Ära von Winfried Neumann ohne Skandale und Verwerfung­en aus. Ohne Geburtsweh­en hob er mit seinem Team die städtische Veranstalt­ungskultur aus der Taufe. Es passt, dass das Haus in der Olgastraße, in der das Kulturbüro residiert, früher eine Geburtskli­nik war.

 ?? FOTO: HARALD RUPPERT ?? Winfried Neumann präsentier­t die Spanne seines Arbeitsleb­ens: Zwischen diesen beiden Aboprogram­men liegen 36 Jahre.
FOTO: HARALD RUPPERT Winfried Neumann präsentier­t die Spanne seines Arbeitsleb­ens: Zwischen diesen beiden Aboprogram­men liegen 36 Jahre.

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