Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Von wegen scheues Reh
Keine Lust auf den FC Bayern – Warum Kai Havertz im Transfer-Dilemma steckt
Von Patrick Strasser
MÜNCHEN - Social distancing – in Zeiten der Corona-Krise das gesellschaftliche Gebot der Stunde. Rein körperlich solle man sich aus dem Weg gehen, Abstand halten. Auch die Schickeria hat Pause, nix Bussi-Bussi. Die gehört zu München wie der „FC Hollywood“, dem – weil momentan außer Dienst – die große Bühne weggebrochen ist. Keine Auftritte, keine Skandale. Der Teamspirit lebt, wenn auch aktuell nur in WhatsAppGruppen oder sonstigem „social Lagerfeuer“.
Und schon sind wir bei der vermeintlichen „Ellenbogengesellschaft“beim FC Bayern, von der zuletzt im Zusammenhang mit Deutschlands größtem Talent Kai Havertz die Rede war. Laut dem „kicker“habe der begehrteste 20-Jährige der Bundesliga keine Lust auf das Haifischbecken an der Säbener Straße, der Abo-Meister sei nicht das „Wunschziel“des Leverkuseners. Wie unerhört! Der offensive Mittelfeldspieler (sieben Länderspiele, ein Tor) hat laut „transfermarkt.de“einen Marktwert von 90 Millionen Euro. „Mehr als 100 Millionen“Ablöse erwartete sein Trainer Peter Bosz. Das war bevor das Ausmaß der Corona-Pandemie zutage trat. So viel wird Leverkusen nicht bekommen, diesen Sommer schon gar nicht. Die Ligen sind weltweit zum Stillstand gekommen. Wie soll man Einkäufe planen, wenn die Einnahmesituation wegen der fehlenden TV-Gelder unsicher ist? „100-Millionen-Euro-Transfers kann ich mir in der nächsten Zeit nicht vorstellen“, sagte Uli Hoeneß im „kicker“. Bayerns Ehrenpräsident weiter: „Es wird sehr wahrscheinlich eine neue Fußballwelt geben.“Der Transfermarkt wird sich enthitzen.
Für Havertz, dessen Vertrag am Rhein bis 2022 läuft, gibt es dennoch genug Interessenten – dafür ist er schlicht zu gut. Etwa den FC Liverpool oder die spanischen Flaggschiffe Real Madrid und FC Barcelona. Aktuell erscheint ein Verbleib von Havertz bei Leverkusen bis 2021, nach der Verschiebung nun ein EMSommer, realistischer. Mit dann nur noch einem übrig gebliebenen Vertragsjahr wäre er noch günstiger.
Doch was für ein Typ ist der gebürtige Aachener Havertz, der 2010 von der Alemannia in Bayers Jugendabteilung wechselte und mit 17 sein Profidebüt gab? Wirklich scheu und schüchtern? Zu mutlos für die Säbener-Ellenbogengesellschaft wie nun also suggeriert – oder gar von irgendeiner Seite lanciert – wurde? Zurückhaltend, ja das ist er. Auch in TV-Interviews will er sich nicht groß aufspielen. Ein gut erzogener, intelligenter und cleverer Junge aus gutem Hause, sei er, so hört diese Zeitung aus seinem Umfeld. Einer, der deutlich selbstbewusster ist als es nach außen den Anschein hat. Nicht umsonst hat sein Trainer das „Wunderkind“(so Bosz selbst) zum Vize-Kapitän gemacht. Mit 20 ist Havertz, wenn – wie so oft – der verletzungsgeplagte Lars Bender fehlt, der jüngste Kapitän der Leverkusener Vereinsgeschichte. Was nicht von ungefähr kommt. Eine Frage von Verantwortung und Vertrauen. Und die Beförderung zum Anführer (dokumentiert durch die Binde) trägt nicht nur das Siegel einer netten Geste, um dem Supertalent noch mehr Vereinstreue oder gar eine mögliche Vertragsverlängerung um ein weiteres Jahr abzuringen.
Havertz sei, so die Informationen der „Schwäbischen Zeitung“, durchaus gut strukturiert, mit klarem Karriereplan. Er weiß um sein Können, und daher um seinen Wert und seinen Stellenwert. Wenn nötig, könne er intern meinungsstark und knallhart sein. Von wegen scheues Reh!
Warum solle er sich in München nicht durchsetzen? Keiner hat in seinem Alter mehr Erfahrung. Denn: Havertz hat 110 Bundesligaspiele auf dem Buckel, kein Profi vor ihm erreichte die 100er-Marke so jung.
Andererseits ist die Liste derer, die bei Bayern gescheitert sind, lang: Mario Götze und Lukas Podolski sind die prominentesten Namen der jüngeren Geschichte, der eine nach außen ebenfalls scheu und zurückhaltend (wie Havertz eben), der andere ein extrovertierter Witzbold à la Franck Ribéry. Es liegt also nicht allein am Charakter.
Es geht vor allem um fußballerische Klasse. Und die hat Havertz unbestritten.