Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Leere Züge, leere Kassen
Die Corona-Pandemie beschert Verkehrsunternehmen Umsatzverluste in Milliardenhöhe
Von Wolfgang Mulke und Simon Schwörer
STUTTGART/MÜNCHEN - Ein Münchner U-Bahn-Zug fasst 820 Fahrgäste. Drinnen sitzen nur 120. So wird statt zahlenden Passagieren viel heiße Luft transportiert. Das beschert dem Stadtwerk happige Einnahmeverluste, wie dessen Chef Ingo Wortmann erläutert. Er spricht auch als Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Fünf Milliarden Euro fehlen den 600 Nahund Güterverkehrsbetrieben in diesem Jahr. Die Auslastung im Nahverkehr sei zwar wieder auf die Hälfte gestiegen. Doch eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen wird Wortmann zufolge noch weit ins nächste Jahr hinein dauern.
Doch die Vorbeugung gegen Infektionen im Nahverkehr klappt mithilfe der Kunden gut. „99 Prozent tragen eine Maske“, sagt der VDV-Chef. Allerdings hätten einige Fahrgäste noch nicht begriffen, dass dieses Gebot auch auf den Bahnhöfen gilt. Dennoch attestiert Wortmann den Fahrgästen eine „extrem hohe Disziplin“. Die Busse und Bahnen werden häufiger gereinigt und die Hygienestandards erhöht. Trotzdem wählt die Hälfte der üblichen Kunden noch andere Verkehrsmittel oder verzichtet auf Fahrten im öffentlichen Nahverkehr.
Der Verband glaubt nicht, dass dies so bleibt und damit die Verkehrswende in den Städten ausbleibt. „Politisch wird sie nicht ausgebremst“, sagt Wortmann und verweist auf das Konjunkturpaket der Bundesregierung. Auch hätten viele Städte schon erste Maßnahmen für eine Verkehrswende in Angriff genommen. Mit 2,5 Milliarden Euro greift die Bundesregierung den Mitgliedsunternehmen des VDV unter die Arme, denn die Betriebe haben ihr normales Angebot aufrechterhalten, auch wenn zu Beginn der Krise die Nachfrage fast komplett ausfiel. Nun hofft die Branche, dass sich auch die Länder nach Vorbild Baden-Württembergs und Nordrhein-Westfalens am Verlustausgleich beteiligen.
Baden-Württemberg hatte einen Rettungsschirm über 200 Millionen Euro für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) angekündigt.
Zudem sollen Reisebusunternehmen mit 40 Millionen Euro unterstützt werden. „Da der Reisebusverkehr komplett verboten war, gingen die Einnahmen hier um 100 Prozent zurück“, sagt ein Sprecher des badenwürttembergischen Verkehrsministeriums der „Schwäbischen Zeitung“. Auch im ÖPNV sei die Zahl der Fahrgäste teilweise um bis zu 90 Prozent eingebrochen. „Da viele Abokunden dem ÖPNV jedoch die Treue gehalten haben, verzeichnen die Verkehrsverbünde insgesamt für die Monate März und April Einnahmenrückgänge zwischen 50 und 70 Prozent“, sagt er.
Die Branchenverbände hätten dem Verkehrsministerium noch keine Insolvenzen gemeldet, erklärt der Sprecher. Inzwischen lägen die Fahrgastzahlen wieder bei etwa 50 Prozent, die wirtschaftliche Lage des ÖPNV bleibe jedoch prekär.
Ausgezahlt wird aktuell aber noch kein Unterstützungsgeld. Der Grund: Die EU-Kommission müsse staatliche Beihilfen erst notifizieren. „Der Antrag dazu liegt der EU-Kommission vor“, erklärt der Ministeriumssprecher
weiter. Die Beantragung und Auszahlung der Gelder solle dann aber möglichst schnell und unbürokratisch sein. Länder und Branchenverbände würden derzeit daran arbeiten, sagt er.
Auch die Verkehrsunternehmen in Bayern spüren die Krise. Wegen Corona standen dort von Mitte März bis Ende Mai die Reisebusse still. „Den Nulleinnahmen standen hohen Fixkosten gegenüber, was viele Betriebe in eine wirtschaftlich sehr schwierige Situation brachte“, sagt eine Sprecherin des bayerischen Wirtschaftsministeriums der „Schwäbischen Zeitung“. Voraussichtlich von Anfang Juli an können betroffene Unternehmen Anträge über das Konjunkturpaket des Bundes stellen, sagt die Sprecherin und ergänzt: „Wir halten die Überbrückungshilfe für ein geeignetes Instrument für die Reisebusbranche.“
Auch den bayerischen ÖPNV traf die Krise. Dort seien zeitweise die Einnahmen bei Einzelfahrkarten um etwa 90 Prozent zurückgegangen, berichtet die Sprecherin. „Abo-Kunden verlangen zunehmend Kündigungen.“Die Bedeutung von Bus und
Bahn unterstreicht Bayerns Verkehrsministerin Kerstin Schreyer. „Deswegen verdoppelt Bayern den Rettungsschirm des Bundes. Wir legen noch einmal 375 Millionen Euro drauf “, sagt Schreyer. Das sei eine gute Nachricht für Verkehrsunternehmen und Verkehrsverbünde, die durch Corona erhebliche Einbußen hätten.
Ebenfalls im Konjunkturpaket angekündigt: die Mehrwertsteuersenkung am 1. Juli. Doch von ihr werden die Kunden zunächst nicht viel spüren. Die Preise im Nahverkehr werden nur einmal jährlich nach einem politischen Verfahren angepasst. Und bei einem Einzelfahrschein läge der Nachlass nur bei wenigen Cent. Der VDV fordert die Betriebe dazu auf, den Nachlass auf kreative Weise an die Kunden weiterzugeben, etwa durch die kostenlose Mitnahme von Fahrrädern.
Mit neuen Angeboten wollen die Nahverkehrsunternehmen künftig gesellschaftliche Mobilitätstrends aufnehmen. So könnten Zeitkarten für Bus und Bahn bald mit Carsharing-Angeboten oder Leihfahrrädern kombiniert angeboten werden.