Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Absturz eines Senkrechtstarters
Hinweise auf Bilanzfälschung bei Wirecard – Es fehlen 1,9 Milliarden Euro – Aktie verliert mehr als 60 Prozent
ASCHHEIM/BONN (dpa) - Aus den Manipulationsvorwürfen gegen den Dax-Konzern Wirecard ist ein handfester Bilanzskandal mit Verdacht auf „gigantischen Betrug“geworden. Der Dax-Konzern verschob am Donnerstag ein weiteres Mal die Vorlage seiner Jahresbilanz für 2019. Der Grund: Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY (Ernst & Young) stellte kein Testat für die Bilanz des Zahlungsabwicklers aus, denn bei Buchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Asien ist wegen Täuschungsverdachts unklar, ob die Gelder existieren. Laut Wirecard geht es um etwa ein Viertel der Bilanzsumme.
Sowohl die Finanzaufsicht Bafin als auch die Münchner Staatsanwaltschaft kündigten an, den Fall prüfen zu wollen. Wirecard gerät nun auch finanziell unter Druck. Sollte der Konzern einen testierten Abschluss bis zu diesem Freitag nicht vorlegen, könnten Banken ihm bestehende Kredite in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro kündigen, warnte das Unternehmen. Auch für die Chefetage hat das Desaster Konsequenzen: Vorstand Jan Marsalek sei mit sofortiger Wirkung freigestellt, hieß es.
Die Nachrichten schockten die Frankfurter Börse: In der Spitze hatten die Wirecard-Papiere mehr als 71 Prozent ihres Börsenwerts verloren. Aus dem Handel gingen die Aktien dann noch mit einem Minus von 61,82 Prozent auf 39,90 Euro – ein rechnerischer Verlust von etwa acht Milliarden Euro. Damit verbuchten Wirecard-Aktien einen der größten prozentualen Tagesverluste, den je ein Dax-Unternehmen auf Schlusskursbasis erlitten hat.
Wirecard-Vorstandschef Markus Braun und seine Kollegen gingen auf Tauchstation. Am Nachmittag sagte das Unternehmen auch die mündliche Präsentation der Bilanz für Medien und Analysten ab. Die Deutsche Börse in Frankfurt prüft Sanktionen wegen der nicht fristgerechten Lieferung der Jahresbilanz.
Wirecard sehe sich als mögliches Opfer eines „gigantischen Betrugs“, sagte ein Firmensprecher. Der Konzern will Anzeige gegen unbekannt erstatten. „Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht“, erklärte Braun schriftlich. Ihm zufolge ist unklar, „ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil von Wirecard vorliegen“.
Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young gehen davon aus, dass „zu Täuschungszwecken“falsche Saldenbestätigungen für die Treuhandkonten ausgestellt wurden, und zwar von einem ungenannten Treuhänder oder zwei ebenfalls ungenannten asiatischen Banken.
Die Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka forderte erneut den Rücktritt von Wirecard-Chef Braun. „Wir sind fassungslos“, sagte Ingo Speich, Leiter des Bereichs für gute Unternehmensführung bei der Deka. „Auch hier hat sich wieder gezeigt, dass den Ankündigungen von Wirecard keine Taten folgen. Ein personeller Neuanfang ist dringender denn je.“Er hoffe, dass sich der erneute Vertrauensentzug am Kapitalmarkt nicht doch noch auf das laufende Geschäft von Wirecard auswirke. Die der Deutschen Bank gehörende Fondsgesellschaft DWS drohte mit einer Klage: „In diesem Zusammenhang analysieren wir die Faktenlage und prüfen die Einleitung rechtlicher Schritte“, sagte ein Sprecher.
Eigentlich wollte der Zahlungsabwickler aus Aschheim bei München am Vormittag die mehrfach verschobene Veröffentlichung des Jahresabschlusses nachholen. Nachdem der Konzern die Abschlüsse der Jahre 2016 bis 2018 bereits einer Sonderprüfung durch das Prüfunternehmen KPMG unterzogen hatte, schauten sich die regulären Prüfer von Ernst & Young die 2019er-Zahlen besonders gründlich an. Doch für das Testat, das sie dem Abschluss vor der Veröffentlichung hätten geben müssen, fehlten entscheidende Belege. Bei den zwei ungenannten asiatischen Banken, die die Treuhandkonten seit 2019 führen, konnten die betreffenden Kontonummern „nicht zugeordnet werden“, wie das Unternehmen formulierte.