Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Einfach mal länger arbeiten
IW-Chef schlägt 42-Stunden-Woche statt Rente mit 70 vor – Arbeitgeber und Gewerkschaften wenig begeistert
BERLIN - In Deutschlands Firmen fehlen Fachkräfte. Warum also nicht einfach länger arbeiten? Bis 70 statt 67 haben schon einige Volkswirte vorgeschlagen. Jetzt gibt es eine neue Idee: die 42-Stunden-Woche. Und die Debatte verlagert sich. Es geht um nicht weniger als die Rente der Deutschen.
Vor einigen Wochen empfahlen die Wirtschaftswissenschaftler Bernd Raffelhüschen, Stefan Kooths und Gunther Schnabl, die Deutschen erst mit 70 in Rente gehen zu lassen. Die Idee: Weil Fachkräfte fehlen, überbieten sich die Unternehmen mit höheren Löhnen, um Spezialisten zu gewinnen. Und so treiben sie die ohnehin hohe Inflation an. Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, schlug jetzt aus dem gleichen Grund vor, doch künftig 42 Stunden in der Woche zu arbeiten – bei vollem Lohnausgleich. Und dafür weiter mit 67 in Rente zu gehen. Vorbilder sieht er in der Schweiz und in Schweden.
2019, dem Jahr vor der Pandemie, arbeiteten die Deutschen im Schnitt 34,8 Stunden in der Woche, 1991 waren es noch 38,4 Stunden, wie das Statistische Bundesamt ermittelt hat. Eingerechnet ist auch Teilzeit, etwas, was immer mehr Arbeitnehmer interessant finden. Wer Vollzeit arbeitet, ist im Schnitt 41 Stunden im Betrieb. Dieser Wert hat sich seit 1991 kaum verändert. Im Prinzip gilt in Deutschland eine 40-Stunden-Woche. Im Arbeitszeitgesetz
sind acht Stunden pro Tag festgelegt, in Ausnahmefällen bis zu zehn.
Das Bundesarbeitsministerium verwies angesichts von Hüthers Vorschlag auf die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie, die auch die Arbeitszeit einschließt. Auch die Arbeitgeber berufen sich auf die Tarifautonomie. „Schon heute sind Wochenarbeitszeiten von sogar mehr als 42 Stunden tariflich möglich und werden selbstverständlich vergütet“, sagte Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands BDA. Aber: Er setzt eher auf eine längere Lebensarbeitszeit.
„Kurzfristig gilt es, vor allem die abschlagsfreien Frühverrentungen zu beenden.“Alles weitere dann in der nächsten Legislaturperiode.
Die Gewerkschaften sind wenig erbaut: „Die Lasten der demographischen Entwicklung allein bei den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen abzuladen geht nicht. Das aber bedeuten lange und überlange Arbeitszeiten, denn die machen auf Dauer krank“, schreibt Anna Piel aus dem Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB. Und sie verweist auf die rund 1,7 Milliarden Überstunden pro Jahr. Mehr als die
Hälfte davon blieben unbezahlt – dafür fließe auch kein Geld in die Sozialversicherung.
Verdi-Chefökonom Dierk Hirschel hält Hüthers Vorschlag für „eine angestaubte Idee aus der wirtschaftsliberalen Mottenkiste des 19. Jahrhunderts.“Er setzt auf den Produktivitätsfortschritt. „Wenn der einzelne Beschäftigte zukünftig produktiver ist, dann können weniger Erwerbstätige mehr Rentnerinnen und Rentner versorgen.“Dafür müssten die Löhne dem Produktivitätsanstieg folgen. Also steigen. Der DGB schlägt vor, die Sozialversicherungspflicht
auszudehnen: auf Minijobs, Saisonarbeit, Selbstständigkeit und die Bezüge von Mandatsträgern. „Je höher die Summe der Löhne ist, von denen Beiträge in die Sozialversicherung fließen, desto besser finanziert ist die Rente.“
Das Grundproblem: Deutschland wird älter. Immer weniger Menschen müssen mit ihren Beiträgen die Renten von immer mehr Rentnern bezahlen. Die Lücke füllt der Bundesfinanzminister. 2021 schoss der Bund 26,6 Prozent der gesamten Einnahmen der Rentenversicherung von rund 341,1 Milliarden Euro zu. Die Einnahmen lassen sich erhöhen, wenn mehr Beschäftigte einzahlen, die Deutschen später in Rente gehen, der Beitragssatz kräftig steigt oder das Rentenniveau deutlich sinkt. Die letzten beiden Punkte hat die AmpelKoalition ausgeschlossen.
Die letzte große Rentenreform ist 15 Jahre her. 2007 setzte die Koalition von Union und SPD durch, dass Arbeitnehmer nicht mehr mit 65, sondern erst mit 67 in Rente gehen können. Erstmals gilt das vollständig für die Jahrgänge ab 1964.
Die Ampel-Koalition plant keine Generalreform. Aber sie will der Deutschen Rentenversicherung zusätzliche Einnahmen verschaffen. Geplant ist ein Fonds, in den der Staat jedes Jahr zehn Milliarden Euro aus dem Haushalt einzahlt. Das Geld kann die Rentenversicherung am Kapitalmarkt anlegen.
Und die Ampelkoalition will Deutschland ein modernes Einwanderungsgesetz geben, das in den vergangenen Jahren am Widerstand der Union gescheitert ist. Dann könnten die fehlenden Fachkräfte auch aus dem Ausland kommen. Und auch die werden dann ins deutsche Rentensystem einzahlen.