Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Im Kuh-Dilemma
Obwohl Bauern für ihre Milch so viel bekommen wie nie zuvor, kämpfen vor allem kleine Höfe um die Existenz
WALDBURG - Wie ihre Stallgenossen hat auch die Kuh, über deren Hals Edgar Müller fährt, keinen Namen. Der Bauer sucht einen ganz speziellen Muskel unter dem Fell des schwarz-weiß gefleckten Tieres. Den Muskel, der sich bewegt, wenn die Kuh, deren Halsband die Zahl 61 trägt, das zuvor gefressene Heu wiederkäut. Ein Sensor, der ebenfalls am Halsgurt direkt über der Ziffer 6 befestigt ist, registriert die Kau-Bewegungen – und Müller kann so alles Wichtige über das Leben seiner namenlosen Kuh erfahren.
Die Daten zeigen, wie lange das Tier das aus dem Magen wieder ins Maul beförderte Futter wiederkäut, wann es zuletzt gemolken wurde, wie hoch der Eiweiß- und Fettgehalt der gegebenen Milch ist und wann die Kuh paarungsbereit ist. Auch sonst ist der Stall in dem oberschwäbischen Dörfchen Waldburg, in dem die Nummer 61 mit 104 weiteren namenslosen Rindern lebt, hochautomatisiert. Roboter übernehmen das Melken der Kühe, Maschinen sorgen für die Fütterung und das Entmisten, Sensoren steuern Lüftung und Jalousien.
Obwohl etwa 90 Prozent der Arbeitsabläufe auf dem Hof, den der 47jährige Bauer in der dritten Generation führt, automatisiert sind, gibt es noch viel Arbeit für ihn. Die Euter der Tiere müssen regelmäßig auf Krankheiten kontrolliert, die Klauen geschnitten, die paarungsbereiten Tiere besamt und der Mist aus den Zwischengängen in die Hauptgänge gekehrt werden. Während Mutter und Ehefrau nicht ihre ganze Arbeitszeit in die Milchwirtschaft einbringen und sich in der Hauptsache um die Kälber kümmern, ist es für Edgar Müller der Hauptjob, der morgens um 6 Uhr beginnt und am Abend gegen 19.30 Uhr endet. Ein Job, der ihn zwar erfüllt, aber in den vergangenen Jahren mit immer größeren wirtschaftlichen Unsicherheiten verbunden ist.
In Baden-Württemberg sank die Zahl der Milcherzeuger nach Angaben des Statistischen Landesamtes vom 10 800 im Jahr 2010 auf nur noch 6200 zehn Jahre später. Hauptgrund ist der schwankende Milchpreis, der vor allem bei kleinen Betrieben oft die Kosten nicht gedeckt hat – und der immer wieder vor allem familiär geführte Höfe im Allgäu und in Oberschwaben vor große Probleme gestellt hat. Im Zuge der Preisteigerung der vergangenen Monate kletterten zwar auch die Preise für Milchprodukte.
Der Handel hat die Preisschilder nach oben korrigiert, und die Molkereien zahlen ihren Erzeugern Preise, von denen Landwirte viele Jahre geträumt haben. Aktuell erhalten Bauern 48,5 Cent pro Kilogramm, noch vor einem Jahr hatten die Betriebe lediglich 33 bis 35 Cent pro Kilogramm Milch bekommen. „Die Milchpreise sind da, wo sie sein sollten, aber trotzdem herrscht keine Partysstimmung“, sagt Gerhard Glaser, Vizepräsident vom Bauernverband in Baden-Württemberg. Edgar Müller ist ebenfalls nicht nach Feiern zumute: Mit den erzielten Milcherlösen sind auch die Kosten für ihn massiv gestiegen. „Wir bräuchten bei den aktuellen Kosten aber einen Milchpreis von 55 Cent, um das auszugleichen“, sagt Müller.
Neben der Haltung der Kühe bewirtschaftet Edgar Müller 60 Hektar Grünland, sieben Hektar Feuchtwiesen, die nur zweimal im Jahr gemäht werden, und 17 Hektar Ackerland. Davon sind 13,5 Hektar Futtermais, 2,5 Hektar Kleegras und ein Hektar Blühwiese, die nicht bewirtschaftet wird. Heu und Mais, etwa 70 Prozent des Futters, baut der Landwirt auf den Wiesen selbst an. Nur das Kraftfutter,
das neben Mais aus Futtergetreide, Zuckerrübenschnitzeln und rapshaltigem Eiweiß besteht, kauft Müller zu.
In dieser Haltungsform geben die Tiere des Waldburger Bauern im Schnitt zwischen 10 500 und 11 000 Liter Milch im Jahr. Damit kommt er auf eine Milchmenge von etwas mehr als 1,1 Millionen Liter, für die die Molkerei Milchverwertung Ostallgäu dem Betrieb bei dem aktuellen Milchpreis rund 450 000 Euro gutschreiben werden. Davon muss Edgar Müller allerdings die Kosten abziehen: 120 000 Euro für Futter, 20 000 Euro für Diesel-Kraftstoff, 25 000 Euro für Dünger und Saatgut, 45 000 Euro für ein Lohnunternehmen, damit ihm Arbeiter beim Silage einfahren und Ackerbau helfen. Für die Pacht für Acker- und Grünland muss der Landwirt 20 000 Euro, für Strom 10 000 Euro, für die Reparatur von Maschinen 20 000 Euro einplanen. Alles in allem 260 000 Euro – dazu kommen Zinsen für Darlehen, mit denen der Betrieb die Stallsanierung, Maschinen, das Wohnhaus und eine Photovoltaik-Anlage finanziert hat, Kosten für Versicherungen und Steuerberater. „Wir freuen uns, dass der Milchpreis gestiegen ist, aber die Kosten für Diesel, Kraftfutter und Dünger steigen auch. Das ist eine Herausforderung für die Milchbauern“, sagt Roswitha Geyer-Fäßler, stellvertretende Vorsitzende vom Bauernverband Allgäu-Oberschwaben.
Für seinen eigenen Lebensunterhalt plant Eugen Müller rund 70 000 Euro ein, davon leben er, seine Ehefrau und drei Kinder und seine Mutter. Zudem muss er Haus und Hof unterhalten und Rücklagen bilden, um in Zukunft neue Maschinen kaufen zu können. Ob er am Ende des Jahres Gewinn machen wird, weiß Müller noch nicht. „Dieses Jahr könnte es knapp werden“, schätzt er. Trotz des hohen Milchpreises, auf den er so lange gewartet hat.
Schuld an den hohen Kosten sei nicht nur die Ukraine-Krise, schon davor seien die Kosten explodiert. Hinzu kommt die allgemeine Teuerung, die Verbraucher noch preissensibler werden lässt. „Der Absatz von Milchprodukten nimmt ab. Die Leute überlegen sich, was und wie viel sie aktuell kaufen“, sagt GeyerFäßler vom Bauernverband AllgäuOberschwaben.
Aber schon vor Krieg und Inflation ging der Pro-Kopf-Konsum von Milch zurück – und das seit Jahren: Nach Angaben des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft sank der Verbrauch 2021 um 2,2 Kilogramm und lag mit 47,8 Kilogramm auf dem niedrigsten Wert seit 1991.
Die Milch bekommt zudem Konkurrenz durch alternative Drinks aus Hafer, Soja oder Reis. „Menschen haben sich schon immer pflanzlich ernährt. Neu ist aber der Auftritt in der Öffentlichkeit. Die Unternehmen erwecken mit ihren Pflanzendrinks den Eindruck, dass damit die Welt gerettet werden kann, wenn man nicht mehr Milch, sondern Hafer trinkt“, sagt der Vizepräsident des Landesbauernverbands Glaser. Glaser wirbt mit seinem Verband für das Produkt Milch – und kämpft gegen die neuen Wettbewerber. „Da gibt es eine Dämonisierung der Kuh von alternativen Anbietern, obwohl diese Anbieter für 2,50 Euro nur weißes Wasser machen“, sagt Glaser.
Höfe wie der von Edgar Müller sind dabei Beispiele, mit denen Glaser zeigen will, dass bei der Produktion von Milchprodukten das Tierwohl sichergestellt wird. 365 Tage im Jahr kümmerten sich die Landwirte um ihre Tiere. In Waldburg bei Edgar Müller leben die Tiere in einem Offenstall mit nach außen offenen und mit Stroh gefüllten Liegeboxen. Um Knie- und Gelenkprobleme bei den Kühen zu vermeiden, sind die Liegeplätze 30 Zentimeter erhöht – auch Kühe haben manchmal Probleme wieder in die Senkrechte zu kommen, wenn sie es sich zuvor gemütlich gemacht haben. Auf die Wiese dürfen Müllers Kühe allerdings nicht. „Ich finde es nicht schlecht, wenn die Kühe raus können. Wenn ich allein bin, habe ich aber das Problem, 105 Kühe in den Stall zu bringen, wenn das Wetter mal umschlägt“, sagt der Bauer. Da sind sie wieder, die Kostenprobleme, die Milchbauern wie Edgar Müller umtreiben.