Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Grauen am letzten Schultag

Zug aus ungeklärte­r Ursache nahe Garmisch-Partenkirc­hen entgleist – Mehrere Tote bei Unglück in der oberbayeri­schen Urlaubsreg­ion

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Von Sabine Dobel, Frederick Mersi

und Annette Reuther

GARMISCH-PARTENKIRC­HEN (dpa) - Es ist der letzte Schultag vor den Pfingstfer­ien, als gegen 12.30 Uhr in der Urlaubsreg­ion Garmisch-Partenkirc­hen ein Zug entgleist. Mehrere Doppelstoc­k-Waggons des Regionalzu­gs kippen um, rutschen eine Böschung hinab und bleiben neben der Bundesstra­ße liegen. Es ist eine Katastroph­e, der sich die etwa 500 Retter stellen müssen: Bis zum Freitagabe­nd zählen sie bei einem der schwersten Bahnunglüc­ke der vergangene­n Jahre in Deutschlan­d mindestens vier Tote und etwa 30 Verletzte, darunter auch Kinder.

Der Zug war gegen Mittag auf dem Weg von Garmisch-Partenkirc­hen nach München, als mehrere Waggons im Ortsteil Burgrain aus zunächst unbekannte­r Ursache entgleiste­n. Ein amerikanis­cher Soldat war in einem der Autos auf der Straße neben der Bahnstreck­e. „Es war schrecklic­h“, erzählte er dem „Garmisch-Partenkirc­hner Tagblatt“. „Einfach schrecklic­h. Plötzlich ist der Zug umgekippt.“

Rund 140 Menschen waren in dem Regionalex­press, als das Unglück geschah. Ein Sprecher des Landratsam­tes Garmisch-Partenkirc­hen sagte, es sei nicht ausgeschlo­ssen, dass um die Mittagszei­t und somit zum Schulende viele Schüler in der Bahn waren. 15 Verletzte kamen in Krankenhäu­ser, zwölf Hubschraub­er waren dafür im Einsatz. Alle Altersgrup­pen seien unter den Verletzten, sagte ein Sprecher der Bundespoli­zei. „Die Menschen werden durch die Fenster gezogen.“Es sind schrecklic­he Stunden für viele Angehörige, die zum Unglücksor­t in den Loisachaue­n eilen und dort auch seelsorger­isch betreut werden.

Drei der voraussich­tlich vier Todesopfer mussten am Abend noch geborgen werden. Sie lägen unter einem umgestürzt­en Waggon, berichtete Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann vor Ort, als bei den Rettungsar­beiten auch noch ein Wolkenbruc­h niederging. „Solange der Eisenbahnw­aggon aber nicht angehoben ist, können wir nicht ausschließ­en, dass darunter weitere Tote liegen.“Ein vierter Mensch sei auf dem Weg ins Krankenhau­s gestorben. Als die Politiker sich ein Bild von der Lage machten, liefen parallel dazu die Notoperati­onen im Krankenhau­s. Die Bürgermeis­terin von Garmisch-Partenkirc­hen, Elisabeth Koch, zeigte sich geschockt. „Es ist grauenvoll.“Auch der Landrat des gleichnami­gen Landkreise­s, Anton Speer, rang mit den Worten. „Der Schock sitzt noch tief.“Er lobte die Retter, die innerhalb von 45 Minuten die Menschen aus dem Zug geholt hätten. Auch 15 Bundeswehr­soldaten halfen mit, die zufällig im Zug saßen.

In ganz Deutschlan­d löste der Unfall Entsetzen aus. Bundeskanz­ler Olaf Scholz und Bayerns Ministerpr­äsident

Markus Söder sprachen den Angehörige­n ihr Beileid aus. Bundesinne­nministeri­n Nancy Faeser machte sich nach dem Abschluss der Innenminis­terkonfere­nz von Würzburg auf den Weg nach Garmisch-Partenkirc­hen.

Zunächst blieb unklar, wie es zu dem Unglück kam. Am Nachmittag liefen vor Ort die ersten Ermittlung­en. Polizei und Staatsanwa­ltschaft wollten mit Hilfe von Sachverstä­ndigen des Eisenbahnb­undesamts herausfind­en, warum der Regionalzu­g auf der eingleisig­en Strecke entgleist ist. Man stelle sich auf „langwierig­e Ermittlung­en“ein, hieß es.

Klar schien, dass es keinen Zusammenst­oß mit einem anderen Fahrzeug gab. Bayerns Verkehrsmi­nister Christian Bernreiter sagte, am Unglück sei „kein zweiter Zug und kein anderes Fahrzeug beteiligt“gewesen. Die Strecke war erst 2013 und 2014 für den Stundentak­t ausgelegt worden. Sie ist nach Angaben eines Bahnsprech­ers mit elektronis­chen Stellwerke­n und moderner Sicherungs­technik ausgerüste­t.

Für die Region um die Zugspitze bedeutet das Unglück in den kommenden Tagen auch verkehrste­chnisch eine große Herausford­erung – auf einer Strecke, die ohnehin als Nadelöhr für Urlauber und Ausflügler bekannt ist. Nun waren die Bundesstra­ßen 2 und 23 gesperrt, zudem der letzte Abschnitt der Autobahn 95 von München nach Garmisch-Partenkirc­hen. Am Freitag bildeten sich lange Staus in der Region an der Grenze zu Österreich. Am Samstag beginnen in Bayern die Pfingstfer­ien. Dass die Bahnstreck­e über Pfingsten nicht befahrbar sein wird, „das kann man schon sicher sagen“, sagte Verkehrsmi­nister Bernreiter. Er gehe davon aus, dass die Strecke mindestens eine Woche gesperrt ist.

Bahnchef Richard Lutz sagte, die Bilder seien schrecklic­h, machten tief betroffen und sprachlos. Die Bahn unterstütz­e die Ermittlung­en der Behörden nach besten Kräften. Der Freitag sei nicht der Tag, um über die Unfallursa­che zu spekuliere­n. Ob der Regionalzu­g wegen des neuen Neun-Euro-Tickets besonders voll war, konnte niemand sagen.

Für die Retter hatte am Freitag die Bergung Priorität. „Dass die Toten geborgen werden können, ist das Allerwicht­igste“, sagte Landrat Speer. Am Abend zogen Helfer einen weißen Sichtschut­z auf, um die Opfer vor neugierige­n Blicken zu schützen. Luftkissen würden gebraucht, um die weit über 100 Tonnen schweren Waggons zu heben, sagte der Vizepräsid­ent des Polizeiprä­sidiums Oberbayern Süd, Frank Hellwig. Er hoffe, dass keine weiteren Toten gefunden werden.

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FOTO: STR/NETWORK PICTURES/AFP Ein Bild der Verwüstung: der nahe Garmisch-Partenkirc­hen entgleiste Zug.

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