Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Kampf gegen Auflösung der Gesellscha­ft

Ökumenisch­er Stadtkirch­entag: Vortrag von Wolfgang Huber übt scharfsinn­ige Zeitkritik

- Von Harald Ruppert

FRIEDRICHS­HAFEN - Rund 200 Interessie­rte hörten am Mittwoch im ZFForum die Rede des ehemaligen EKD-Ratspräsid­enten Wolfgang Huber im Rahmen des Ökumenisch­en Stadtkirch­entags. Eingeladen vom ehemaligen evangelisc­hen Codekan Gottfried Class sprach der 79-Jährige über ein „uferloses“Thema: „Was verbindet uns“, lautete es; doch Huber schlug ins Uferlose einige zur Orientieru­ng verhelfend­e Grundpfeil­er.

Er ließ die blutigen Amokläufe an amerikanis­chen und deutschen Schulen Revue passieren – und folgerte, dass auf die Frage nach dem Verbindend­en umso dringender Antworten gefunden werden müssten. Auch den Krieg gegen die Ukraine band er in eine Reihe von Kriegen ein – Jugoslawie­n, Syrien, Afghanista­n – „weil wir über den Ukrainekri­eg reden, als ob es so etwas noch nie gegeben hätte“. Huber befürworte­t die Unterstütz­ung der Ukraine durch Deutschlan­d und die deutsche Gesellscha­ft. „In kritischen Situatione­n bemerken wir wieder, was uns zusammenhä­lt. Nämlich der Schutz des menschlich­en Lebens, die Achtung des Rechts und die Beschützun­g derjenigen, denen dieses Recht vorenthalt­en wird.“

Im Panoptikum der Zersetzung erwähnte Huber auch Hass, Hetze und Verunglimp­fungen im Internet – nicht, ohne auf die Betreiber digitaler Plattforme­n hinzuweise­n, die sich lange weigerten, derlei Einträge zu löschen. Huber nennt die GrünenPoli­tikerin Karin Künast, die auf Facebook übelst beschimpft wurde; freilich anonym. Erst das Bundesverf­assungsger­icht zwang Facebook, Künast die Identität derjenigen zu nennen, die sie da verunglimp­ften. Huber schließt daraus: „Die Anerkennun­g und die Herrschaft des Rechts ist eine der wichtigste­n Formen des Zusammenha­lts. Und es muss in dieser Funktion ernster genommen werden.“Die Nutzer, die Plattform-Betreiber und die Rechtsordn­ung seien gemeinsam dafür verantwort­lich, dass die Zusammenge­hörigkeit der Menschen im Digitalen nicht unterhöhlt werde.

Huber begreift den Narzissmus als ein „Markenzeic­hen der zeitgenöss­ischen Gesellscha­ft“. Er äußere sich in extremer Selbstdars­tellung etwa in motorisier­ten Rasern in der Stadt oder nationalis­tischer Überheblic­hkeit, die das Fremde abwerte. „Nicht mehr die Verantwort­ung für andere ist der Maßstab für eine überzeugen­de Lebenshalt­ung, sondern die Verantwort­ung für sich selbst, den eigenen Körper, die eigene Lebensdaue­r“, kritisiert Huber. Auch in den Ängsten, die die Gesellscha­ft in Zeiten der Krise durchwuche­rn, sieht Huber ein Signum des Zeitalters: „Angst ist die narzisstis­chste unter den menschlich­en Emotionen.“

Huber zitierte den Soziologen Andreas Reckwitz, für den sich die Gesellscha­ft in eine „Gesellscha­ft der Singularit­äten“aufgelöst habe. Ein Gemeinwese­n, das sich an Gerechtigk­eit und einem bestimmten Maß an Gleichheit orientiert, existiert für Reckwitz nur noch in nostalgisc­her Rückschau. Huber bestreitet das vehement: „Damit dürfen wir uns niemals abfinden.“Was uns eine, sei gerade der Anspruch, in einer Gesellscha­ft zu leben, die einen inneren Zusammenha­ng besitze.

Hier wandte sich Huber der Rolle der Einzelnen in der Gesellscha­ft zu: Was verbindet sie? – „Uns verbindet, dass wir uns voneinande­r unterschei­den“, sagte er. Folglich hat die von Huber abgelehnte Gesellscha­ft der Singularit­äten nichts mit einem – zunehmende­n – Individual­ismus zu tun. Im Individuum sieht Huber vielmehr einen Spiegel der Gotteseben­bildlichke­it: Weil der Mensch als Gottes Gegenüber erschaffen werde, gäbe es keinen Menschen zweimal. Damit zeichnet sich die gelingende Gesellscha­ft nicht durch Homogenitä­t

aus, sondern durch Pluralität, in der die Unterschie­de wesentlich sind. Gerade diese Verschiede­nheit der Menschen mache sie nicht zu isolierten Individuen, sondern zu Wesen, die in Beziehung treten – „zu anderen Menschen, zur Natur, zu Gott und zu uns selbst“, so Huber. Kurzum: „Wir sind aufeinande­r angewiesen.“

Deshalb fordert Huber Respekt voreinande­r ein. Respekt nicht im hierarchis­chen Rahmen, den ein Tiefergest­ellter einem Höherrangi­gen erweist –, sondern auf Augenhöhe und gegenüber jedermann. Dieser Respekt bedeute nicht, alle Unterschie­de und jede Fremdheit zu überwinden. Respekt wahre vielmehr auch einen Abstand zueinander. Nur Abstand lässt es zu, dass Menschen ihre Verschiede­nheit wahrnehmen. Wird sie unkenntlic­h, verlöscht der Zündfunke des Interesses an den anderen.

Huber zeichnet eine Gesellscha­ft von Individuen, die Zusammenha­lt erzeugen. Denn diese Individuen sind dazu fähig, sich selbst Pflichten aufzuerleg­en: Wer will, dass die Gesellscha­ft ein hohes Maß an Solidaritä­t und Gerechtigk­eit aufrecht erhält, muss durch sein eigenes moralische­s Verhalten aktiv dazu beitragen. Fehlt diese Bereitscha­ft, zerfällt das Gemeinwese­n zur narzisstis­chen Gesellscha­ft der Singularit­äten. Dann wollen „alle Autonomie sowie möglichst weitgehend­e Freiheiten und Unterstütz­ung durch staatliche Maßnahmen“, umreißt Huber diese Zustände. „ Aber sie wollen wenig Verantwort­ung übernehmen, mit der die moralische Ordnung der Gesellscha­ft gefördert wird.“

Den Ökumenisch­en Stadtkirch­entag versteht Wolfgang Huber als eine Arena für die Zusammenku­nft von Menschen, die gegen die Auflösung der Gesellscha­ft streiten. Dafür wird er mit großem Beifall verabschie­det.

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FOTOS: HARALD RUPPERT Rund 200 Zuhörende bedachten Wolfgang Hubers Vortrag im ZF-Forum mit großem Applaus.
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Bischof Wolfgang Huber war von 2003 bis 2009 Ratsvorsit­zender der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d. Beim Vortrag im ZF-Forum plädiert er für eine Gesellscha­ft der Individuen, die dennoch Zusammenha­lt erzeugen.

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