Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
So leicht bricht der Panzer der Gleichgültigkeit
Stellen Sie sich einen Strand vor, der mit Seesternen übersät ist. Die Flut hat unzählige von ihnen an Land gespült, und jetzt drohen sie auf dem Trockenen zu verenden. Inmitten all dieser Tiere steht ein Mädchen. Erst wirkt sie hilflos, aber dann beginnt sie, Seestern für Seestern zurück ins Meer zu werfen. Als ein Spaziergänger auftaucht, hält sie kurz inne, denn er ruft ihr etwas zu: „Lass das doch. Es sind zu viele. Ob du ein paar Seesterne rettest oder nicht, macht keinen Unterschied.“Das Mädchen sieht auf den Seestern in ihrer Hand. Dem Mann ruft sie zu: „Für diesen hier schon!“– und wirft den Seestern ins Meer. Was für eine naive Geschichte. Als ich sie gehört habe, habe ich abgewunken. Und trotzdem ist ihre Logik einleuchtend. Zumal es nicht nur für den einzelnen Seestern einen Unterschied macht, ob man ihn rettet oder nicht. Es macht auch einen Unterschied für denjenigen, der sich zur Rettung entschließt. Es holt ihn aus einem Gefühl der Ohnmacht, die sich mit Gleichgültigkeit maskiert. Und wenn das bewirkt werden kann, soll es sich nicht lohnen, auch nur einen von einer Million Seesternen zu retten?
Ersetzen Sie den Seestern durch ein anderes Tier – beispielsweise durch irgendein Insekt, von denen wir insgesamt sowieso viel zu wenig haben. Meinetwegen den Regenwurm, der in der Sommerhitze über ein Stück Asphalt robbt, um das nächste Stück Wiese zu erreichen. Eines ist sicher: Er wird vorher vertrocknen. Außer, man bückt sich nach ihm und trägt ihn drei Meter weiter.
Bei mir hat sich gegenüber Insekten unmerklich ein anderer Umgang eingeschlichen. Früher habe ich die Schwebfliege weggewedelt, die sich auf meinem Handrücken niederließ. Heute lasse ich sie sitzen. Welchen Grund gab es eigentlich, sie zu verscheuchen? Oder die Großen Zitterspinnen (gern mit Weberknechten verwechselt), die ihre wirren Netze wieder reichlich an den Zimmerdecken weben. Früher habe ich auf sie das Rohr des Staubsaugers gerichtet, der sie vertilgte. Jetzt ist es mir lieber, ein Glas über sie zu stülpen und sie nach draußen in den Garten zu bringen. Die verbleibenden Spinnweben lassen sich anschließend auch einsaugen, ohne den Tieren selbst ans Leder zu gehen. Oft gehen wir Tieren schon dann nicht ans Leder, wenn wir ihnen nicht unbewusst Fallen stellen – so wie mir das passierte: Vor zwei
Jahren freute ich mich über ein Amselpaar, das seine Jungen bei uns ausbrütete. Eines Morgens waren die Jungvögel ausgeflogen. Aber einen von ihnen fand ich ertrunken in einem unserer halbvollen Regenfässer. Er war bei seinen Flugversuchen hineingestürzt und die glatten Wände waren ihm zum Verhängnis geworden. Seitdem decken wir die Regentonnen mit Deckeln ab. Und weil es an Deckeln fehlt, schwimmt in den übrigen Tonnen jeweils ein Brettchen, als Rettungsfloß.
Der Mann am Strand mag recht haben. Im Ganzen macht das alles sicherlich keinen Unterschied. Aber für jedes der einzelnen Tiere schon. Und für mich auch.