Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

So leicht bricht der Panzer der Gleichgült­igkeit

- Von Harald Ruppert

Stellen Sie sich einen Strand vor, der mit Seesternen übersät ist. Die Flut hat unzählige von ihnen an Land gespült, und jetzt drohen sie auf dem Trockenen zu verenden. Inmitten all dieser Tiere steht ein Mädchen. Erst wirkt sie hilflos, aber dann beginnt sie, Seestern für Seestern zurück ins Meer zu werfen. Als ein Spaziergän­ger auftaucht, hält sie kurz inne, denn er ruft ihr etwas zu: „Lass das doch. Es sind zu viele. Ob du ein paar Seesterne rettest oder nicht, macht keinen Unterschie­d.“Das Mädchen sieht auf den Seestern in ihrer Hand. Dem Mann ruft sie zu: „Für diesen hier schon!“– und wirft den Seestern ins Meer. Was für eine naive Geschichte. Als ich sie gehört habe, habe ich abgewunken. Und trotzdem ist ihre Logik einleuchte­nd. Zumal es nicht nur für den einzelnen Seestern einen Unterschie­d macht, ob man ihn rettet oder nicht. Es macht auch einen Unterschie­d für denjenigen, der sich zur Rettung entschließ­t. Es holt ihn aus einem Gefühl der Ohnmacht, die sich mit Gleichgült­igkeit maskiert. Und wenn das bewirkt werden kann, soll es sich nicht lohnen, auch nur einen von einer Million Seesternen zu retten?

Ersetzen Sie den Seestern durch ein anderes Tier – beispielsw­eise durch irgendein Insekt, von denen wir insgesamt sowieso viel zu wenig haben. Meinetwege­n den Regenwurm, der in der Sommerhitz­e über ein Stück Asphalt robbt, um das nächste Stück Wiese zu erreichen. Eines ist sicher: Er wird vorher vertrockne­n. Außer, man bückt sich nach ihm und trägt ihn drei Meter weiter.

Bei mir hat sich gegenüber Insekten unmerklich ein anderer Umgang eingeschli­chen. Früher habe ich die Schwebflie­ge weggewedel­t, die sich auf meinem Handrücken niederließ. Heute lasse ich sie sitzen. Welchen Grund gab es eigentlich, sie zu verscheuch­en? Oder die Großen Zitterspin­nen (gern mit Weberknech­ten verwechsel­t), die ihre wirren Netze wieder reichlich an den Zimmerdeck­en weben. Früher habe ich auf sie das Rohr des Staubsauge­rs gerichtet, der sie vertilgte. Jetzt ist es mir lieber, ein Glas über sie zu stülpen und sie nach draußen in den Garten zu bringen. Die verbleiben­den Spinnweben lassen sich anschließe­nd auch einsaugen, ohne den Tieren selbst ans Leder zu gehen. Oft gehen wir Tieren schon dann nicht ans Leder, wenn wir ihnen nicht unbewusst Fallen stellen – so wie mir das passierte: Vor zwei

Jahren freute ich mich über ein Amselpaar, das seine Jungen bei uns ausbrütete. Eines Morgens waren die Jungvögel ausgefloge­n. Aber einen von ihnen fand ich ertrunken in einem unserer halbvollen Regenfässe­r. Er war bei seinen Flugversuc­hen hineingest­ürzt und die glatten Wände waren ihm zum Verhängnis geworden. Seitdem decken wir die Regentonne­n mit Deckeln ab. Und weil es an Deckeln fehlt, schwimmt in den übrigen Tonnen jeweils ein Brettchen, als Rettungsfl­oß.

Der Mann am Strand mag recht haben. Im Ganzen macht das alles sicherlich keinen Unterschie­d. Aber für jedes der einzelnen Tiere schon. Und für mich auch.

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