Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Meckenbeuren trauert um seine Ehrenbürgerin
Im Alter von 106 Jahren verstirbt Dr. Renate Martin – Erste Frau im Gemeinderat und vieles mehr
MECKENBEUREN - Die Schussengemeinde trauert um ihre Ehrenbürgerin. Im Alter von 106 Jahren ist Renate Martin am Mittwoch in der Früh im Heim St. Josef in Brochenzell verstorben. Über Jahrzehnte bot sie als Allgemeinärztin und erste Gemeinderätin in Meckenbeuren für viele Menschen eine dankbar angenommene Anlaufstelle, um Sorgen zu teilen und Rat zu holen. Und auch in der Folge sollte „Fräulein Doktor Martin“, wie sie lange Zeit gerufen wurde, in ihrer vielfältigen ehrenamtlichen Tätigkeit den Ort mitprägen und schließlich 2019 zur ersten Ehrenbürgerin werden.
Erst im Alter von 31 Jahren knüpfte Gerda Renate Martin (am 5. Juli 1915 geboren und auf diesen Namen getauft) ihre Verbindung zu Meckenbeuren. Hatte sie in Freiburg Medizin studiert und in München promoviert, so verbrachte die gebürtige Karlsruherin 1939 ihr erstes Assistenzjahr in Friedrichshafen, gefolgt von Jahren an der Frauenklinik in Tübingen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich Renate Martin in der hiesigen Graf-Zeppelinstraße 5 nieder – im gleichen Haus, in dem sich die Schwesternstation der Franziskanerinnen befand.
Schwierig und in heutiger Zeit kaum vorstellbar: So schilderte Renate Martin im SZ-Gespräch zu ihrem 105. Geburtstag mit Karl Gälle die Begleitumstände anno 1946. Je zwölf Quadratmeter klein waren Wohnung und Behandlungszimmer. Herrschte Patientenandrang, kam dem Treppenhaus die Funktion eines Wartezimmers zu.
Bald schon ein bekannter Anblick, auch beim Noteinsatz des Nachts: Erst auf dem Fahrrad, ab 1948 auf dem Leichtmotorrad eilte Renate Martin zu ihren Patienten. Eingangs der 60er-Jahre sollte – dank eines Gönners – der damals obligate „Käfer“den „Drahtesel“ablösen. Wie sich auch die angemieteten Räumlichkeiten wandelten: Übers Haus Schoreit (ebenfalls Zeppelinstraße) kam die beliebte Ärztin in den 1950er-Jahren in die Albrecht-DürerStraße – und damit zu angemesseneren Praxisräumen und einer Wohnung. Als sie 1983 in den Ruhestand ging, übergab sie ihre Praxis an Josef Sauter.
Der 2020 verstorbene Arzt gehörte wie Renate Martin der CDU an. Auf deren Liste sollte sie bei der Kommunalwahl im Herbst 1965 in den Meckenbeurer Gemeinderat einziehen. Bis zum 28. Oktober 1984 gehörte sie ihm an, also auch in der Zeit der Gemeindefusion (1972). Für Kehlens Räte ein Novum: Im neuen gemeinsamen Gremium lagen für die Ratsmitglieder immer eine Packung Zigaretten sowie mehrere Stumpen aus, die während der Sitzung geraucht werden durften. Was der Ärztin Renate Martin zeitlebens ein Gräuel war, zumal die Zusammenkünfte in einem Raum der Schule stattfanden: Mit Anträgen bekämpfte sie die Unsitte ebenso wie mit Kerzen. Die brachte sie mit, um den Zigarettenrauch ihres Nebensitzers zu übertünchen.
Fast 20 Jahre gestaltete Renate Martin als damals einzige Frau im Rat die Kommunalpolitik in der Schussengemeinde mit. Ein Kürzertreten sollte es für die knapp 70-Jährige nach dem Rückzug aus Beruf wie Rat aber nicht geben. Ob im Kirchenchor, im Familienkreis, im Gottesdienst, als Kommunionhelferin oder Mitbegründerin des Frauenbund-Zweigvereins lebte sie ihren Glauben, aus dem sie Kraft und Zuversicht schöpfte, offen und intensiv.
Ebenso blieb Renate Martin Vereinen wie Harmonia, Musikverein oder der CDU weiter verbunden. Dass sie ihr späterer Betreuer Rudolf Göggerle unwidersprochen als „Mutter Teresa von Meckenbeuren“kennzeichnen konnte, hatte seinen Grund aber nicht in der Vielfalt ihres
Engagements, sondern wie sie dieses ausübte: Nie mit dem Blick auf sich, sondern stets auf andere. Das begann bei der Ärztin, für die ihre Patienten ihre Familie waren, und sollte im Ruhestand nicht enden: Über Jahre besuchte sie weiterhin Ärztekongresse und half im Freundeskreis Asyl mit – immer dort zu finden, wo Solidarität gefragt war.
Einfache und kostenarme Lösungen gehörten zu Renate Martins Spezialitäten – gefunden in und mit den Menschen, in denen sie immer das Gute zu sehen vermochte. Das äußerte sich im Engagement im Häfler Hospiz oder in den Patientendiensten, die sie schon früh im Heim St. Josef in Brochenzell verrichtete.
Dort ist Renate Martin nun auch verstorben, dorthin war sie 2018 nach einem Schlaganfall gewechselt – und hatte in Rudolf Göggerle einen fürsorglichen Betreuer gefunden. Mehr als 15 Jahre lang hatte Renate Martin sich zuvor in der Wohnanlage am Bahnhofplatz wohlgefühlt – so wie sie es auch in St. Josef tun sollte.
Große Zufriedenheit mit der Pflege, Gemeinschaft und Unterbringung brachte sie zum Ausdruck: Einfach zufrieden sei sie, erzählte Renate Martin im Sommer-Interview 2019 – gebe es doch keinen Streit, und jeder nehme den anderen wie er sei. Man helfe sich gegenseitig, so gut es gehe.
Naturliebend und naturverbunden genoss sie es bis zuletzt, draußen zu sein, aber auch das Weltgeschehen geistig klar und rege zu verfolgen. Im lokalen Geschehen war sie selbst in die Schlagzeilen geraten: Im Nachklapp zu ihrem 104. Geburtstag wurde Renate Martin durch die Bürgermeisterin 2019 beim Sommerfest von St. Josef die Ehrenbürgerwürde der Gemeinde verliehen.
Elisabeth Kugel war es auch, die die Trauernachricht am Mittwoch im Gemeinderat verkündete. Auf SZAnfrage sagt sie: „Frau Dr. Martin war für mich und viele andere eine inspirierende Persönlichkeit, die es gewagt hat, ihrem Herzen zu folgen und mit klugem Verstand große Aufgaben als selbstständige Ärztin und Hebamme zu erfüllen. Als erste Frau im Gemeinderat hatte sie sich in der damaligen Männerdomäne Respekt verschafft und Spuren hinterlassen.“
Wie für Elisabeth Kugel bleibt Renate Martin auch für viele andere in guter Erinnerung – beispielhaft für einen Menschen, der Fröhlichkeit und Lebensmut, Bescheidenheit und Beherztheit, Demut und Nächstenliebe in sich vereinte. Und positives Denken weitergab: „Es passiert so viel Schönes und Gutes im Laufe des Lebens“– diese Aussage traf Renate Martin im Alter von 105 Jahren, wohlwissend um Wohl und Wehe dieser Welt. Was nur vermag, wer im Einklang mit sich selbst ist.
In der Kirche St. Maria beginnt der Trauergottesdienst für Renate Martin am Freitag, 17. Juni, um 14 Uhr. Die Beisetzung auf dem Meckenbeurer Friedhof schließt sich an.