Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Boris Johnson kämpft ums politische Überleben
Nach der knapp gewonnenen Vertrauensabstimmung macht sich der Briten-Premier selbst Mut
LONDON - War da was? Einen Tag nach dem mühsam gewonnenen Vertrauensvotum in der eigenen Fraktion handelte Boris Johnson am Dienstag nach der Parole business as usual. Vor den eigens eingeladenen TV-Kameras beschwor der Premierminister das konservative Kabinett, einen Strich unter die Ereignisse der letzten Wochen zu ziehen. Gemeinsam werde man sich auf die Unterstützung der von Preissteigerungen gequälten Bevölkerung konzentrieren. Hingegen nannte der frühere Parteichef und Außenminister William Hague die Abstimmung in der ToryFraktion „qualitativ und quantitativ verheerend“.
Johnson und sein Team waren am Sonntag, mitten in den Platinfeiern zum 70. Thronjubiläum der Queen, von der Nachricht überrascht worden, dass eine ausreichende Zahl von Rebellen das Votum über den Chef erzwungen hatte. Die hastig anberaumte Abstimmung ergab am Montag: Lediglich 59 Prozent der konservativen Wahlkreisvertreter mochten ihrem Parteichef den Rücken stärken. Damit hat der 57-Jährige einen höheren Anteil der Fraktion gegen sich als seine Vorgänger Margaret Thatcher (1990), John Major (1995) und Theresa May (2018) in vergleichbaren Situationen. Zudem kommen die erklärten Kritiker aus allen ideologischen Gruppen der Partei.
Die Reaktion des Amtsinhabers fiel gespenstisch aus. Johnson sprach von einem „sehr guten, überzeugenden, entscheidenden Resultat“. Von einer gerüchtehalber erwogenen vorgezogenen Neuwahl halte er nichts; vielmehr wolle er das Mandat seines klaren Wahlsiegs vom Dezember 2019 wahrnehmen und „Politik für die Menschen im Land“machen. Triumphal äußerten sich eine Reihe von Verbündeten des Premierministers. Unter anderem führte Bildungsminister Nadhim Zahawi aus, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj werde „jubeln“, weil ihm ein wichtiger westlicher Alliierter erhalten bleibe. Tatsächlich kam wenig später aus Kiew ein freundschaftlicher Tweet eines Präsidenten-Beraters – womöglich bestellt in einem Telefonat am Montagmorgen, über das die Pressestelle der Downing Street eilends berichtet hatte. In Wirklichkeit besteht über die eindeutige Unterstützung der Ukraine, auch mit schweren Waffen, in Großbritannien parteiübergreifend Einigkeit.
In der Fraktion begann am Dienstag erneut die Debatte darüber, ob die Statuten der Partei geändert werden müssten. Bisher kann sich der Parteiund Regierungschef nach einer gewonnenen Vertrauensabstimmung für ein Jahr in Sicherheit wiegen. Allerdings erweist sich ein wenig überzeugender Gewinn häufig als Pyrrhussieg; so trat Thatcher 1990 zwei Tage nach dem ersten Wahlgang zurück, May überlebte ihren „Sieg“lediglich um ein halbes Jahr. Aber „die Zeit ehrenvoller Rücktritte“, seufzt der Johnson-Kritiker Tobias Ellwood, „ist wohl vorbei“.
Der Analyse des Politikprofessors Tim Bale von der Londoner QueenMary-Universität zufolge kommt der Vergleich mit Thatcher Johnsons Situation am nächsten. Allerdings seien bei der „eisernen Lady“1990 zwei Faktoren im Spiel gewesen, nämlich ihre zunehmend halsstarrige Persönlichkeit und die Einführung einer weithin verhassten sogenannten Kopfsteuer, die überproportional Mieter belastet und Hausbesitzer verschont hätte. Hingegen gehe es beim Amtsinhaber nicht wirklich um Gesetzesvorhaben, analysierte Bale in der „Financial Times“: „Er macht bei allem eine Kehrtwende, wenn ihm das nötig erscheint. Bei ihm geht es ganz überwiegend um die Persönlichkeit.
Wie die Strategen der Parteizentrale die nächste Wahlschlacht bestehen wollen, demonstrierte die Schlagzeile der Johnson-treuen „Daily Mail“. Neben einem fröhlichen Foto des Oppositionsführers Keir Starmer wurde dabei die Führungskraft des Premierministers mit „der Chaos-Koalition des grinsenden Starmer“verglichen. Tatsächlich gilt in Westminster als wahrscheinlich, dass die Labour-Party zu schwach ist, um beim kommenden Urnengang eine eigene Mehrheit zu gewinnen. Sie wäre dann auf die Unterstützung der Liberaldemokraten sowie allenfalls auch der schottischen Nationalisten angewiesen – keine erfreuliche Aussicht für alle jene, die durch das britische Mehrheitswahlrecht an die Alleinregierung einer Partei gewöhnt sind und Koalitionen per se für unerquicklich halten.
Von Grinsen kann zwar bei Starmer keine Rede sein; allerdings lachen sich viele Labour-Leute ins Fäustchen angesichts der Selbstzerfleischung der Konservativen. Ein „tödlich verwundeter, diskreditierter Chef einer Regierung ohne Zusammenhalt“sei für seine Partei das bestmögliche Resultat, glaubt ExKulturminister Ben Bradshaw, wenn die Situation auch „furchtbar“sei für Großbritannien. Die Liberaldemokraten argumentieren ähnlich und versuchen, noch diese Woche eine Vertrauensabstimmung im Parlament selbst herbeizuführen. Dem Vorhaben dürfte erfahrungsgemäß kein Erfolg beschieden sein.