Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Wenn Bindung zur existenziellen Gefahr wird
Kinder- und Jugendpsychotherapiewoche in Lindau startet nach zweijähriger Corona-Pause wieder
LINDAU - Endlich wieder mit Kolleginnen und Kollegen real diskutieren und sich austauschen, darauf haben die Teilnehmer der zweiten Tagung der Kinder- und Jugendpsychologen in Lindau drei Jahre lang warten müssen. Nach den beiden – wegen Corona ausgefallenen – Jahren 2020 und 2021 öffnet die KIKT Akademie Köln wieder in Lindau ihre Tore und bietet eine Woche lang Vorträge und Workshops zu allen relevanten Themen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie und -psychiatrie an.
Der Beginn aber stand im Zeichen von Corona – und in gewisser Weise auch des Ukrainekrieges, beides weltweite Bedrohungen. Der Facharzt für Kinderpsychiatrie und -psychotherapie Karl-Heinz Brisch widmete sich Bindungen in Zeiten ebensolcher Bedrohungen. Für die eine, den Ukrainekrieg, waren Spenden erbeten für eine Kölner Institution sowie das Hilfswerk Bodensee, das ein Kinderheim in der Ukraine unterstützt.
Zuvor gab es eine Eröffnung, in der die Teilnehmer und Besucher aus der Lindauer Bevölkerung darüber aufgeklärt wurden, wie eng eigentlich die Bindung zwischen Köln und Lindau ist: Beide am Wasser gelegen, zwei Kirchtürme, die das Zentrum dominieren, davon jeweils einer von einem Baugerüst verhüllt. Ach ja, beide Städte liegen am Rhein, der als Sinnbild für die Entwicklung eines Kindes mit den Eltern beschrieben wurde: Zwei Eltern (Hinterund Vorderrhein) zeugen da ein Kind, das zunächst fast unmerklich heranwächst (im Bodensee).
Die verschiedenen Etappen Hoch-, Ober-, Mittel- und Niederrhein stehen dann für das, was sich im Laufe der Jahre auch mit Eltern und Kind abspielen kann, bis hin zu der verästelten Mündung. Stets aber ist eine Bindung vorhanden. Eine Bindung, die nicht nur beim Menschen ein evolutionärer Schutz ist und schlussendlich auch das Überleben sichern soll.
Eine gesunde Bindung von Eltern und Kind, Brisch beschreibt es auch als gesundes Urvertrauen, aktiviert unter vielem anderen das Immunsystem und sorgt für wesentlich weniger Stressanfälligkeit. Das belegt er mit einem Video, das zeigt, wie Kleinkinder mit und ohne Urvertrauen in Krisen reagieren.
Richtig problematisch wird es, wenn ein unbekannter und unsichtbarer „Feind“ins Leben tritt, wie das unsichtbare Coronavirus. Plötzlich wird die Bindung zur eventuell existenziellen Gefahr, eine weltweite Gefahr, aus der es kein Entkommen gibt. Das Geben und Nehmen von Schutz kann wegen der Ansteckungsgefahr zur tödlichen Bedrohung werden. Auswüchse benennt Brisch mit klaren Worten: „Mütter mussten ihre Kinder allein gebären, Alte mussten alleine sterben. Wir (Psychologen) sind bei all den Expertenkommissionen völlig außen vor gelassen worden, keiner von uns saß mit am Tisch, das darf nie wieder passieren“, kritisierte er.
Denn so seien psychische Erkrankungen dadurch drastisch verstärkt worden: Angst, Depression, posttraumatische Belastungen, Sucht, psychosomatische Störungen oder auch Burnout. Es sei eine Katastrophe gewesen, dass kein Jugendhilfearbeiter zu den Familien gedurft habe.
Diese angesprochene Angst sei auch der Nährboden für die Verschwörungstheorien gewesen, so Brisch. Bei dieser Angst vor Unsichtbarem
könne man so einen „Feind“benennen, egal wie absurd er klingen mag. Und die daraus resultierenden Spaltungen, die sich auch durch Familien zogen, Spaltungen, die nur noch gut und böse, richtig und falsch kannten, seien Resultate fehlenden Naturvertrauens, meinte er. Wobei eine zitierte Studie, die über drei Stationen während der gesamten Akutphase von Corona gelaufen war, zu Tage gebracht habe, dass Corona zwar in vielen Fällen Schaden angerichtet habe, in anderen aber die Resilienz gestärkt habe. Auch hier gelte, wer Urvertrauen gelernt habe, komme besser oder gar unbeschadet durch solche Krisen.
Brisch zeigt auch, wie Kinder mit unterschiedlichsten sozialen oder kulturellen Hintergründen in Gruppen Empathie lernen können, durch Babywatching, wo eine Mutter oder ein Vater mit einem wenige Wochen alten Baby für die Dauer eines Jahres jede Woche in die Kitagruppe oder Schule kommt und die Kinder im Stuhlkreis erleben, wie das Baby von Woche zu Woche wächst, bis es eines Tages laufen kann. Das könne helfen, Urvertrauen zumindest nachvollziehbar zu machen.
Ein weiteres Resümee aus der Pandemie-Zeit mit Homeschooling und Homeoffice sei: Auf Distanz zu strafen gehe leicht, Versöhnen aber ist fast unmöglich. Dazu sei die physische Nähe unumgänglich. Auch wenn die Teilnehmer der Tagung sich nicht versöhnen müssen – der Austausch verbunden mit körperlicher Nähe kann nun in Lindau wieder stattfinden.