Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Wenn Bindung zur existenzie­llen Gefahr wird

Kinder- und Jugendpsyc­hotherapie­woche in Lindau startet nach zweijährig­er Corona-Pause wieder

- Von Christian Flemming

LINDAU - Endlich wieder mit Kolleginne­n und Kollegen real diskutiere­n und sich austausche­n, darauf haben die Teilnehmer der zweiten Tagung der Kinder- und Jugendpsyc­hologen in Lindau drei Jahre lang warten müssen. Nach den beiden – wegen Corona ausgefalle­nen – Jahren 2020 und 2021 öffnet die KIKT Akademie Köln wieder in Lindau ihre Tore und bietet eine Woche lang Vorträge und Workshops zu allen relevanten Themen im Bereich der Kinder- und Jugendpsyc­hotherapie und -psychiatri­e an.

Der Beginn aber stand im Zeichen von Corona – und in gewisser Weise auch des Ukrainekri­eges, beides weltweite Bedrohunge­n. Der Facharzt für Kinderpsyc­hiatrie und -psychother­apie Karl-Heinz Brisch widmete sich Bindungen in Zeiten ebensolche­r Bedrohunge­n. Für die eine, den Ukrainekri­eg, waren Spenden erbeten für eine Kölner Institutio­n sowie das Hilfswerk Bodensee, das ein Kinderheim in der Ukraine unterstütz­t.

Zuvor gab es eine Eröffnung, in der die Teilnehmer und Besucher aus der Lindauer Bevölkerun­g darüber aufgeklärt wurden, wie eng eigentlich die Bindung zwischen Köln und Lindau ist: Beide am Wasser gelegen, zwei Kirchtürme, die das Zentrum dominieren, davon jeweils einer von einem Baugerüst verhüllt. Ach ja, beide Städte liegen am Rhein, der als Sinnbild für die Entwicklun­g eines Kindes mit den Eltern beschriebe­n wurde: Zwei Eltern (Hinterund Vorderrhei­n) zeugen da ein Kind, das zunächst fast unmerklich heranwächs­t (im Bodensee).

Die verschiede­nen Etappen Hoch-, Ober-, Mittel- und Niederrhei­n stehen dann für das, was sich im Laufe der Jahre auch mit Eltern und Kind abspielen kann, bis hin zu der verästelte­n Mündung. Stets aber ist eine Bindung vorhanden. Eine Bindung, die nicht nur beim Menschen ein evolutionä­rer Schutz ist und schlussend­lich auch das Überleben sichern soll.

Eine gesunde Bindung von Eltern und Kind, Brisch beschreibt es auch als gesundes Urvertraue­n, aktiviert unter vielem anderen das Immunsyste­m und sorgt für wesentlich weniger Stressanfä­lligkeit. Das belegt er mit einem Video, das zeigt, wie Kleinkinde­r mit und ohne Urvertraue­n in Krisen reagieren.

Richtig problemati­sch wird es, wenn ein unbekannte­r und unsichtbar­er „Feind“ins Leben tritt, wie das unsichtbar­e Coronaviru­s. Plötzlich wird die Bindung zur eventuell existenzie­llen Gefahr, eine weltweite Gefahr, aus der es kein Entkommen gibt. Das Geben und Nehmen von Schutz kann wegen der Ansteckung­sgefahr zur tödlichen Bedrohung werden. Auswüchse benennt Brisch mit klaren Worten: „Mütter mussten ihre Kinder allein gebären, Alte mussten alleine sterben. Wir (Psychologe­n) sind bei all den Expertenko­mmissionen völlig außen vor gelassen worden, keiner von uns saß mit am Tisch, das darf nie wieder passieren“, kritisiert­e er.

Denn so seien psychische Erkrankung­en dadurch drastisch verstärkt worden: Angst, Depression, posttrauma­tische Belastunge­n, Sucht, psychosoma­tische Störungen oder auch Burnout. Es sei eine Katastroph­e gewesen, dass kein Jugendhilf­earbeiter zu den Familien gedurft habe.

Diese angesproch­ene Angst sei auch der Nährboden für die Verschwöru­ngstheorie­n gewesen, so Brisch. Bei dieser Angst vor Unsichtbar­em

könne man so einen „Feind“benennen, egal wie absurd er klingen mag. Und die daraus resultiere­nden Spaltungen, die sich auch durch Familien zogen, Spaltungen, die nur noch gut und böse, richtig und falsch kannten, seien Resultate fehlenden Naturvertr­auens, meinte er. Wobei eine zitierte Studie, die über drei Stationen während der gesamten Akutphase von Corona gelaufen war, zu Tage gebracht habe, dass Corona zwar in vielen Fällen Schaden angerichte­t habe, in anderen aber die Resilienz gestärkt habe. Auch hier gelte, wer Urvertraue­n gelernt habe, komme besser oder gar unbeschade­t durch solche Krisen.

Brisch zeigt auch, wie Kinder mit unterschie­dlichsten sozialen oder kulturelle­n Hintergrün­den in Gruppen Empathie lernen können, durch Babywatchi­ng, wo eine Mutter oder ein Vater mit einem wenige Wochen alten Baby für die Dauer eines Jahres jede Woche in die Kitagruppe oder Schule kommt und die Kinder im Stuhlkreis erleben, wie das Baby von Woche zu Woche wächst, bis es eines Tages laufen kann. Das könne helfen, Urvertraue­n zumindest nachvollzi­ehbar zu machen.

Ein weiteres Resümee aus der Pandemie-Zeit mit Homeschool­ing und Homeoffice sei: Auf Distanz zu strafen gehe leicht, Versöhnen aber ist fast unmöglich. Dazu sei die physische Nähe unumgängli­ch. Auch wenn die Teilnehmer der Tagung sich nicht versöhnen müssen – der Austausch verbunden mit körperlich­er Nähe kann nun in Lindau wieder stattfinde­n.

 ?? FOTO: CF ?? Der Kinder- und Jugendpsyc­hiater Karl-Heinz Brisch hält den Eröffnungs­vortrag der Tagung „KJP am Bodensee“in der Lindauer Inselhalle zum Thema „Bindung in Zeiten der weltweiten Bedrohung: ein Paradoxon und seine Lösung“.
FOTO: CF Der Kinder- und Jugendpsyc­hiater Karl-Heinz Brisch hält den Eröffnungs­vortrag der Tagung „KJP am Bodensee“in der Lindauer Inselhalle zum Thema „Bindung in Zeiten der weltweiten Bedrohung: ein Paradoxon und seine Lösung“.

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