Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Virologen sehen derzeit keine gefährliche Corona-Varianten
Die Fallzahlen bleiben hoch, Verläufe derzeit oft relativ mild – RKI warnt vor weiterem Anstieg bei Risikogruppen
BERLIN - Gefühlt ist für viele Deutsche die Pandemie beendet. Auch wenn die Inzidenz bei über 300 liegt und Freunde oder Kollegen immer mal wieder wegen einer Infektion abtauchen. Das Leben an der frischen Luft, das weitgehende Ende der Maskenpflicht und der vergleichsweise milde Verlauf der Omikron-Infektionen haben Corona den Schrecken genommen. Zunächst einmal. Einen Sommer wie im vergangenen Jahr, als die Inzidenz im einstelligen Bereich lag, wird es nach Ansicht des Virologen Christian Drosten diesmal nicht geben, was aber auch „nicht bedrohlich“sei. Für Herbst und Winter allerdings erwartet er eine lange Infektionswelle.Auch der Expertenrat der Bundesregierung sowie viele Politiker aus Bund und Ländern sehen mit Sorge auf den Herbst.
Aktuell jedoch haben wir es zunächst mit der Veränderung von Omikron zu tun. Omikron wird in Sublinien unterteilt, die sich in der Anzahl der Mutationen unterscheiden. Zunächst waren das BA.1, BA.2 und BA.3. Rasch erwies sich BA.2 als noch ansteckender als BA.1, während BA.3 unauffällig blieb. Ende Februar überholte BA.2 in Deutschland BA.1, zuletzt kam BA.1 laut Robert-KochInstitut (RKI) nur noch auf 0,2 Prozent aller Infektionen. Die gefährlichere Delta-Variante, bis Dezember 2021 vorherrschend, ist komplett verschwunden.
Aber auch die Dominanz von BA.2 bröckelt – die erst im Februar entdeckte Variante BA.5 verdoppelte sich hierzulande innerhalb einer Woche auf zehn Prozent an den Neuinfektionen, BA.4 stieg auf 2,1 Prozent. BA.4 und BA.5 gelten als noch einmal ansteckender als BA.2, nach Zahlen aus Portugal, wo BA.5 für hohe Inzidenzen sorgt, um rund zwölf Prozent. Für den Modellforscher Kai Nagel ergibt sich daraus, dass BA.5 bei uns bald die Mehrheit der Ansteckungen ausmachen wird – und damit die Infektionen zunehmen. Auch das RKI warnt wegen BA.4 und B.5, „dass es auch insgesamt zu einem Anstieg der Infektionszahlen und einem erneut verstärkten Infektionsdruck auf vulnerable Personengruppen schon im Sommer kommen kann“.
Gerade BA.5 ist im Vergleich zu den sonstigen Omikron-Varianten noch einmal besser in der sogenannten Immunflucht. Das Erbgut hat sich also so verändert, dass es der Immunantwort des Körpers von
Geimpften und Genesenen besser entkommt. Und das bremst, sagt das RKI, die Saisonalität aus. Eigentlich nämlich sorgen Temperatur, die UVStrahlung der Sonne, Wind und Luftfeuchtigkeit und die Tatsache, dass sich bei schönem Wetter die Menschen häufig im Freien aufhalten, für einen starken Rückgang der Übertragungen.
Doch lösten die beiden OmikronVarianten in Südafrika während der dortigen Sommermonate eine neue Infektionswelle aus, trotz hoher Temperaturen. Worauf etwa auch der österreichische Molekularbiologe Ulrich Elling verweist. Das Infektionsgeschehen sei „sehr von der jeweiligen Variante getrieben“. Auch in Hongkong, wo die Fallzahlen in diesem Jahr zwischenzeitlich nach oben gesprungen waren, passierte das bei Temperaturen von 25 Grad Celsius.
Damit sorgt Corona auch bei Experten noch immer für Überraschungen: So hatte Christian Drosten vor wenigen Wochen gemeint, dass der Erfolg von BA.4/BA.5 in Südafrika darin begründet gewesen sei, dass es dort zwar massenhaft BA.1, aber nicht – wie in Deutschland – auch noch BA.2 gegeben habe. Was die Lage hierzulande anders aussehen lasse. Auch der Epidemiologe Hajo Zeeb glaubt, dass die deutsche BA.2-Welle durchaus noch gegen BA.5 helfen könnte: Viele Menschen seien gerade erst genesen und hätten aktuell eine starke Immunantwort. Allerdings: Wer BA.1 oder BA.2 hatte, kann sich trotzdem durchaus mit BA.4 oder BA.5 anstecken.
Für die Virologin Sandra Ciesek ist das auch ein Schwachpunkt für die angekündigten Omikron-Impfstoffe: Mit einem an BA.1 angepassten Impfstoff werde man „wohl wieder hinterherlaufen. Hier müssten wir besser und schneller werden.“Dagegen hat gerade der Vakzin-Hersteller Moderna mitgeteilt, seine Kombination aus Omikron-Vakzin und bisherigem Impfstoff führe nach einem Monat zu deutlich mehr neutralisierenden Antikörpern als nach einer Booster-Impfung mit dem herkömmlichen Präparat, insbesondere gegen Omikron.
Eines allerdings scheint klar: Egal, welche Omikron-Variante grassiert – der Verlauf ist zumeist vergleichsweise mild. Weshalb etwa der Virologe Marc Van Ranst, der erstmals in Belgien BA.4 nachgewiesen hatte, sagte: „Lieber eine neue Variante von Omikron als eine ganz neue Variante.“Selbst der für seine steten Mahnungen bekannte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hält BA.5 für „keine besonders gefährliche Variante“. Die von einigen Experten befürchtete Mischung aus Omikron und Delta, „Deltakron“genannt, jedenfalls ist zwar in Einzelfällen aufgetaucht, scheint sich aber angesichts der besonders ansteckenden Corona-Varianten nicht durchsetzen zu können. Wie es mit dem Virus in den kommenden Monaten weitergeht, ist offen.