Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Ukraine hat hohe Erwartungen an Scholz
Vor dem Kiew-Besuch des Kanzlers erhöht Präsident Selenskyj den Druck auf die Bundesregierung
BERLIN - Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach über hundert Tagen Ukraine-Krieg nun wirklich nach Kiew reist, dann reisen auch seine eigenen Worte mit: „Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen“, hatte der Kanzler Mitte Mai gesagt. „Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.“
Ganz konkrete Dinge – aus Sicht der Ukraine kann das nur zweierlei sein: schwere Waffen und der EUBeitrittskandidatenstatus. Beides ist allerdings sperriges Reisegepäck. Deswegen besteht durchaus die Gefahr, dass die lang ersehnte Visite gleich die nächste Enttäuschung produziert.
Immerhin kommt Scholz bislang unbestätigten, aber übereinstimmenden internationalen Medienberichten zufolge nicht alleine: Neben Italiens Regierungschef Mario Draghi
soll auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron anreisen. Das wäre ein ziemlich beeindruckendes Trio, wenngleich es geschlagene drei Monate nach den Kollegen aus Polen, Tschechien und Slowenien eintrifft.
Macron allerdings ist der amtierende EU-Ratspräsident und spricht als solcher für die Gesamtheit der Mitgliedsstaaten, die auf dem Gipfel kommende Woche entscheiden, wie mit dem Beitrittsantrag der Ukraine umzugehen ist. Was Macron bislang zu sagen hatte, ist in Kiew auf wenig Begeisterung gestoßen: Man dürfe Russland nicht „demütigen“, beschied der französische Präsident, der in den vergangenen Monaten Stunde um Stunde mit Wladimir Putin am Telefon verbrachte.
Und statt baldigem Kandidatenstatus schlug Macron eine neu zu schaffende „europäische politische Gemeinschaft“vor – eine Art EUWartezimmer de luxe für Beitrittskandidaten erster Klasse wie die Ukraine.
In den Augen von Präsident Wolodymyr Selenskyj handelt es sich dagegen um eine äußerst unattraktive EU-Abstellkammer. Seine Hoffnung ruht daher auf Scholz. Er wünsche sich, dass der Bundeskanzler persönlich die EU-Mitgliedschaft der Ukraine unterstütze, sagte Selenskyj am Montagabend im ZDF.
Scholz allerdings hat bislang eine Festlegung sorgfältig vermieden.
Auch mit Blick auf deutsche Waffen sind die Erwartungen groß: „Deutschland ist etwas später als einige unserer Nachbarländer dazugekommen, was die Waffenlieferungen angeht“, kritisierte Selenskyj – und hängte die Latte für Scholz damit noch ein Stückchen höher. Der wiederum verwahrte sich zum wiederholten Mal gegen den Vorwurf der Zögerlichkeit: „Wir werden die Waffen, die wir auf den Weg gebracht haben, alle liefern.“Konkret geht es vor allem um Schützenpanzer, Panzerhaubitzen, moderne Flugabwehrsysteme sowie Artillerieortungsradare.
Nicht gerade vereinfacht wird die Debatte durch Selenskyjs Aussage, die Rückholung der Halbinsel Krim sei ein klares Kriegsziel. Denn auf die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel durch Russland 2014 reagierte der Westen zwar mit Sanktionen, hatte sich zuletzt aber sozusagen unter Protest damit abgefunden.