Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Doppeltes Problem für die Tafeln

Wegen Pandemie, Krieg und Inflation kommen mehr Bedürftige – Spenden gehen zurück

- Von Dominik Guggemoos

BERLIN - Sie sind vielleicht so wichtig wie nie – und gleichzeit­ig ist ihre Situation extrem angespannt. Die Rede ist von den 962 Tafeln hierzuland­e, die von über 1,5 Millionen bedürftige­n Menschen in Deutschlan­d regelmäßig aufgesucht werden, um sich mit gespendete­n Lebensmitt­eln zu versorgen. Ein Überblick, was ihre Situation so schwierig macht – und wie die Politik ihnen helfen könnte.

Warum spitzt sich die Lage der Tafeln zu?

„Wir erleben eine Krise, die auf eine Krise folgt“, sagt Sirkka Jendis im Gespräch. Schon die zwei Pandemieja­hre seien eine große Herausford­erung gewesen, weil einerseits mehr Menschen zur Tafel gekommen seien und anderersei­ts viele Ehrenamtli­che zur Risikogrup­pe gehörten, erklärt die Geschäftsf­ührerin des Dachverban­ds Tafel Deutschlan­d. So haben 40 Prozent der Tafeln in Deutschlan­d zwischen 2020 und 2021 mehr Kunden verzeichne­t. Die hohe Inflation und der Krieg in der Ukraine spitzen die Situation jetzt weiter zu. Doch das ist nicht alles. Die Tafeln „erleben ein doppeltes Problem, weil die Lebensmitt­elspenden zurückgega­ngen sind“, sagt Jendis. „Wenn Sie im Supermarkt leere Regale sehen, bedeutet das, dass auch die Tafeln weniger Lebensmitt­el bekommen.“Mehr Menschen müssen also mit weniger Spenden versorgt werden.

Welche Rolle spielen Geflüchtet­e aus der Ukraine?

Viele von ihnen suchen in Deutschlan­d die Tafeln auf – teilweise, weil sie von anderen Geflüchtet­en den Tipp bekommen haben, teilweise aber auch, weil der Staat sie dazu auffordert. „Es gibt den Satz von den Behörden zu Geflüchtet­en: ‚Geh erst mal zu den Tafeln.‘ Das kann nicht sein, da nimmt der Staat seine Versorgung­saufgabe nicht wahr“, kritisiert Jendis. Auch wenn viele Ukrainerin­nen zunächst in den großen Städten angekommen sind, ist deren Versorgung laut der Geschäftsf­ührerin „eine gesamtdeut­sche Herausford­erung, auch für die Tafeln“.

Wie könnte der Gesetzgebe­r den Tafeln helfen?

„Wir wünschen uns eine strukturel­le finanziell­e Unterstütz­ung vom Staat, damit wir in unsere Logistik investiere­n können – und langfristi­g mehr Lebensmitt­el retten“, sagt Jendis. Die SPD-Fraktionsv­ize Dagmar Schmidt sagt, dass der Bund die Tafeln bereits mit der Übernahme von Personalko­sten durch die Vermittlun­g von Langzeitar­beitslosen unbensmitt­el. terstütze. „In Zukunft wollen wir vor allem Spenden von Supermärkt­en erleichter­n und dafür sorgen, dass noch weniger Lebensmitt­el im Müll landen.“

Braucht man eigentlich einen Bedürftigk­eitsnachwe­is, um Lebensmitt­el bei der Tafel zu erhalten?

Grundsätzl­ich muss man bedürftig sein, um von den Tafeln Lebensmitt­el zu bekommen. Wie sich die einzelnen Tafeln diese nachweisen lassen, ist aber ihnen überlassen. Jendis betont, dass „in den allermeist­en Fällen gilt: Wer zur Tafel kommt, braucht Hilfe.“

Sind die Lebensmitt­el, die Bedürftige bei den Tafeln bekommen, über dem Mindesthal­tbarkeitsd­atum?

Die Tafeln „müssen Sorge tragen, dass wir nur einwandfre­ie, bedenkenlo­s zu verzehrend­e Produkte an die Kunden weitergebe­n“, sagt Jendis. Produkte, bei denen das Mindesthal­tbarkeitsd­atum (MHD) bereits erreicht oder überschrit­ten ist, dürfen angenommen werden. Allerdings müssten dann zusätzlich­e Hygienevor­schriften beachtet werden, wie eine gesonderte Lagerung und stichprobe­nartige Testung der Le„Nicht jede Tafel kann das leisten“, sagt Jendis. Das MHD ist trotzdem ein großes Thema für die Tafeln. „Wir wünschen uns da eine Bildungska­mpagne. Da geht es auch viel um Aufklärung – das habe ich an mir selbst gemerkt, bevor ich bei der Tafel aktiv war“, erläutert sie.

Verdecken die Tafeln Fehler in der Sozialpoli­tik?

„Seit fast drei Jahrzehnte­n verstetige­n Tafeln Armut in Deutschlan­d, indem sie in einem geschlosse­nen System Menschen mit Almosen in der Form von Sachspende­n versorgen“, kritisiert der Soziologe Stefan Selke, Professor für gesellscha­ftlichen Wandel, der sich in seinem aktuellen Buch „Wunschland“mit der Rolle sozialer Utopien beschäftig­t. Was auf den ersten Blick wie willkommen­e Hilfe aussehe, zeuge mittlerwei­le von einem schleichen­den Zivilisati­onsbruch.

„Solange die Tafeln einigermaß­en funktionie­ren“, sagt Selke, „flackert das politische Interesse an echter Armutsbekä­mpfung auf kleiner Flamme.“Jendis betont, dass die Tafeln zwar „liebend gerne helfen, aber: Es sollte sie nicht als Existenzhi­lfe geben müssen.“Die SPD-Fraktionsv­ize

Schmidt verspricht, dass „vor dem Hintergrun­d steigernde­r Preise die Grundsiche­rungsleist­ungen neu berechnet“würden.

Kann der Lebensmitt­elhandel mehr tun?

2019 hat die Branche nach Angaben des Handelsver­bands Lebensmitt­el (BVLH) 130 000 Tonnen Lebensmitt­el gespendet. „Das Spenden war nie, ist kein und sollte auch künftig in erster Linie nicht Selbstzwec­k sein“, sagt ein BVLH-Sprecher. Dass die Tafeln immer mehr Schwierigk­eiten hätten, ihre Kunden ausreichen­d mit Lebensmitt­elspenden zu versorgen, liege neben der steigenden Zahl Bedürftige­r auch daran, dass die Handelsunt­ernehmen mithilfe verschiede­ner Maßnahmen die Menge der Lebensmitt­el reduziert hätten, die nicht mehr verkauft werden können, betont der BVLH.

„Diese eigentlich gute Entwicklun­g hat nun die ‚Nebenwirku­ng‘, dass sie zu den Versorgung­sschwierig­keiten bei einigen Tafeln beiträgt.“Die Tafeln arbeiten an einem Digitalisi­erungsproj­ekt, um die Logistik zu vereinfach­en. Eine höhere Standardis­ierung helfe auch dem Handel, sagt Jendis, nicht nur dem großen Discounter.

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FOTO: WEIHRAUCH/DPA Mehr als 1,5 Millionen Menschen in Deutschlan­d besuchen regelmäßig Tafelläden in Deutschlan­d.

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