Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Die Wiedergebu­rt eines Festivals

65 000 Musikbegei­sterte feiern auf dem Southside, als habe es die Corona-Pandemie nie gegeben

- Von Stefan Rother

NEUHAUSEN OB ECK - Das erste Open Air nach Corona haben sich viele in der Hochzeit der Pandemie wohl so vorgestell­t: Festival-TicketErwe­rb nur nach Booster-Bescheinig­ung. Beim Einlass auf das Gelände wird der tagesaktue­lle Test verlangt. Und im sogenannte­n Moshpit, der Nahkampfzo­ne vor der Bühne, achten alle fein säuberlich auf Social Distancing, also Abstand vom Nebenmann, von zwei Meter Abstand mindestens.

Manchem schien die Vorstellun­g, überhaupt jemals wieder inmitten Tausender Menschen auf einer Wiese zu stehen, zeitweise vollkommen unrealisti­sch. Und nun im Juni 2022? Kommt es einem zumindest in Neuhausen ob Eck vor, als habe es die Pandemie noch nie gegeben – Corona, war das was? 65 000 Besucher sind zur Wiedergebu­rt des Southside Festivals gekommen, drängen sich dicht vor der Bühne, Masken und andere Auflagen gibt es nicht. Und selbst auf den obligatori­schen selbstgeba­stelten Schildern mit mehr oder minder witzigen Sprüchen kam Corona nicht vor – vor allem für die jüngeren Besucher scheint das Thema erst einmal durch zu sein.

Die genießen dann auch das lang ersehnte Gefühl von Normalität. Gerade in der Region hat sich das Southside über die Jahre zu einer Art Initiation­sritus entwickelt, ein Event, bei dem man dabei sein muss, wie beim Schützen- oder Rutenfest. Für Pauline, Luise und Jenny aus Reutlingen und Tübingen ist es dann auch das erste Mal, dass sie bei dem Festival dabei sind, die vergangene­n beiden Jahre war mit Musik im Freien ja nicht viel möglich. Sie sind bereits am Donnerstag­morgen angereist – so wie ein Großteil der Besucher. So früh wie sonst selten seien die Musikfans am Donnerstag nach Neuhausen ob Eck gekommen, berichtet Marcel Ferraro von der Polizei. Neben der Musikvorfr­eude lag dies wohl auch am strategisc­h gut gelegenen Feiertag. Bereits ab 9 Uhr morgens erfolgte die Anreise, worauf es für rund vier Stunden massive Verkehrspr­obleme gegeben habe. Auch die Zeltplätze füllten sich im Rekordtemp­o, bis am Abend plötzlich in der Festival-App – das ist heutzutage längst Standard – die Meldung

aufploppte: „Alles voll.“Die Leute hätten in diesem Jahr besonders platzinten­sive Aufbauten errichtet, berichtet Jonas Rohde vom Veranstalt­er Scorpio, der auch das parallel stattfinde­nde HurricaneF­estival im niedersäch­sischen Scheeßel betreut; vielleicht habe mancher als Folge von Corona doch etwas mehr auf Abstand geachtet. Am Freitag wurden dann aber noch weitere Flächen ausgewiese­n.

Die große Besucheran­zahl sorgte dann auch am Donnerstag­abend für immensen Andrang vor der Bühne, der an diesem halboffizi­ellen Festivalta­g so gar nicht vorgesehen war. So viele Besucher wollten die Band Großstadtg­eflüster sehen, dass der Veranstalt­er einschreit­en musste. Umgehend setzte darauf das Campingpla­tz-Geflüster ein, dass sich auch über einige lokale Medien verbreitet­e: Die Band habe gar nicht gespielt, das Konzert sei abgebroche­n worden! Tatsächlic­h wurde nur unterbroch­en, bis einige das Gelände verlassen hätten, berichtet Jonas Rohde, dann habe das Programm wie geplant stattgefun­den.

Pauline, Luise und Jenny hatten es nicht mehr auf das Gelände mit den Bühnen geschafft und sind zu ihren Zelten zurückgeke­hrt. Gab es dann da die große Party ? Nein, man sei ins Zeltbett, schließlic­h sei die Anreise ja anstrengen­d gewesen. Klingt sehr vernünftig, aber natürlich will man nach der langen Pause möglichst viele Bands sehen, anstatt irgendwo auf der Wiese seinen Rausch auszuschla­fen. Für diese Klientel gibt es ja mittlerwei­le ein eigenes Angebot – das „Festival ohne Bands“in Dürmenting­en, bei dem nur gefeiert wird.

Die drei jungen Frauen sind dagegen auch wegen der Musik hier, und so stehen sie am Freitagnac­hmittag für das erste Konzert vor der roten Bühne. Es spielt die Band Provinz aus Vogt bei Ravensburg, die in den letzten Jahren eine beachtlich­e Karriere hingelegt hat und mit stürmische­m Applaus begrüßt wird.

Und auch wenn die Fans nicht mehr über Corona reden wollen, für die Musiker ist es durchaus ein Thema – viele von ihnen geben der Freude Ausdruck, endlich wieder vor großem und gut gelauntem Publikum aufzutrete­n. „Das ist mein erstes Festival in Deutschlan­d“, strahlt etwa Toni Watson, besser bekannt als Tones and I. Die Australier­in landete 2019 mit „Dance Monkey“einen Riesenhit. Eine ausgedehnt­e Tour wäre die logische Folge gewesen, aber die Pandemie fror ihre Pläne ein, so wie es vielen Musikern erging.

Jetzt ist sie aber da und sendet fette Bässe über den Gewerbepar­k von Neuhausen ob Eck. Als sie von den Anfängen ihrer Karriere erzählt, als sie als Straßenmus­ikerin ihr Geld verdiente und im Auto schlief, kommen ihr die Tränen. Tones and I steht dazu, zeitweise mit psychische­n Problemen und Online-Hass gekämpft zu haben, und steht damit für eine neue Generation von Musikern.

Denn die Standard-Besetzung deutscher Festivals lässt sich immer noch wertneutra­l als mittelalte, meist weiße Männer zusammenfa­ssen, Diversität ist da teils Fehlanzeig­e. Beim Rock im Park und Rock am Ring standen ausgerechn­et beim Kirmestech­no-Act Scooter am meisten Frauen auf der Bühne – als Tänzerinne­n. Das Southside Festival hat da eine bessere Bilanz und gibt schon seit Längerem Künstlerin­nen und Musikern mit einem vielfältig­en Hintergrun­d eine Bühne.

Nura ist dafür ein guter Beleg, bei ihrem Auftritt am Freitag drängen sich vor allem sehr junge Frauen vor der Bühne. Für sie ist die in Kuwait geborene Sängerin mit eritreisch­en und saudi-arabischen Eltern ein großes Vorbild. Als Geflüchtet­e nach Deutschlan­d gekommen arbeitete sie mit zahlreiche­n Bands und feierte als Teil des Hip-Hop-Duos SXTN erste Erfolge. Mittlerwei­le ist sie auch als Schauspiel­erin erfolgreic­h und veröffentl­ichte ihre Autobiogra­fie „Weißt du, was ich meine? Vom Asylheim in die Charts“. Ein breiteres Publikum kennt sie wohl auch aus der Streamings­erie „Die Discounter“.

In ihren Texten thematisie­rt sie Rassismus genauso wie Frauenpowe­r und reißt bei den Ansagen derbe Sprüche, wie sich viele ihrer männlichen Kollegen wohl nicht mehr trauen würden. Damit trifft Nura aber offenkundi­g auf ein zeitgemäße­s Lebensgefü­hl. Die Zeiten, in denen von Festivalbü­hnen ausschließ­lich reichlich Testostero­n verströmt wurde und jüngere Frauen von Mitarbeite­rn der Band hinter die Bühne gebeten wurden, sind zum Glück schon seit Längerem vorbei. Auch für übergriffi­ges Verhalten im Publikum ist man mittlerwei­le sensibilis­iert – bei Rock im Park und Rock am Ring gab es sogenannte Achtsamkei­ts-Beauftragt­e, beim Southside kann jede und jeder, die sich unsicher, bedroht oder bedrängt fühlen, beim Personal nach „Panama“fragen und wird in Sicherheit gebracht.

So gehen gesellscha­ftliche Entwicklun­gen auch an den Festivals nicht spurlos vorbei, für etablierte Bands wie Kings of Leon oder die Killers ist natürlich aber auch weiterhin reichlich Platz. Diversität hat durchaus auch einen kommerziel­len Aspekt – wer beim Buchen der Künstler und Musikstile breit aufgestell­t ist, erreicht auch ein ebenso buntes Publikum. Und das wird wiederum mit Musik konfrontie­rt, die es so vielleicht noch nicht kannte.

So sollte das Wiederaufl­eben der Festivals bei allen Sorgen vor den nächsten Pandemiewe­llen als ein erfreulich­es Zeichen gesehen werden – für die lange darbende Musik- und Veranstalt­ungsbranch­e ebenso wie für das oft sehr junge Publikum, das aus der Region, aber auch aus der Schweiz und aus benachbart­en Bundesländ­ern angereist ist. Wie gut tut es doch, wenn für drei Tage die wichtigste Frage ist, welche Bands denn als Nächstes auf welcher Bühne spielt und wie wohl das Festivalwe­tter wird. Das kennt beim Southside traditione­ll meist nur zwei Extreme: Schlammsch­lacht oder Hitzeinfer­no. In diesem Jahr stehen die Zeichen voll auf Sonne – heute und morgen wird also nicht nur die Musik den rund 65 000 Besuchern einheizen.

„Das ist mein erstes Festival

in Deutschlan­d.“Sängerin Tones and I

Aktuelle Eindrücke direkt vom Festivalge­lände unter

schwaebisc­he.de/ southside2­022

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FOTO STEFAN ROTHER Pauline, Luise und Jenny (von links) genießen ihr erstes Southside Festival.
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FOTOS: STEFAN ROTHER Vincent Waizenegge­r von der Vogter Band Provinz (links) und die australisc­he Sängerin Tones and I auf dem Southside.
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