Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Große Aufgaben für kriselnde Branche
Windenergieunternehmen könnten von Ausbauprogramm profitieren
BERLIN - Bald wird das Windindustrie-Unternehmen Nordex seine Fabrik in Rostock offiziell schließen. Das ist wieder einmal eine schlechte Nachricht für die Branche, etwa 500 Beschäftigte verlieren ihre Arbeitsplätze. Der deutschen Windindustrie geht es nicht gut. Erinnerungen an den Zusammenbruch der hiesigen Solarindustrie vor zehn Jahren kommen hoch.
Die ökonomische Situation steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu den aktuellen politischen Entscheidungen. Schließlich ist die Bundesregierung gerade dabei, ein gigantisches Ausbauprogramm für Ökostrom auf den Weg zu bringen. Was ist los in der Branche?
Die schlechte Laune dominiert dort spätestens seit 2018. Damals brach der Neubau von Windkraftkraftwerken in Deutschland massiv ein. Wurden davor regelmäßig über 1000 Rotoren jährlich errichtet, waren es danach nur noch ein paar hundert. Die Hersteller der Anlagen bekamen Probleme. Große Firmen wie Enercon verringerten die Zahl ihrer Beschäftigten. Und die Krise strahlte in die Nachbarländer aus. Auch der dänische Hersteller Vestas schloss einige Fabriken. Hierzulande sank die Zahl der Arbeitsplätze um etwa ein Drittel unter 100 000.
Ausgelöst wurde dieser Einbruch durch eine Reform des ErneuerbareEnergien-Gesetzes. „Die Deckelung des Ausbaus durch die früheren Bundesregierungen war der wesentliche Grund dafür, dass Werke geschlossen wurden und Arbeitsplätze verlorengingen“, sagt Wolfram Axthelm, Geschäftsführer des Bundesverbandes
Windenergie (BWE), der Unternehmen vertritt. Während die Betreiber von Windrädern vorher politisch beschlossene, oft sehr lukrative Zuschüsse erhielten, bekamen danach im Prinzip nur noch die billigsten Anbieter eine staatliche Förderung. Außerdem zog die Regierung aus Union und SPD eine relativ niedrige Obergrenze für den jährlichen Neubau ein. Die politische Absicht dahinter war unter anderem, die ins Kraut schießenden Kosten für Verbraucher und Wirtschaft einzudämmen.
Aus heutiger Sicht mutet das seltsam an – war doch bereits 2015 das Pariser Abkommen zum Klimaschutz beschlossen worden. Trotzdem nahm der Gegenwind in Deutschland zu. „Rechtliche Konflikte mit dem Artenschutz und restriktive Flächenausweisungen haben den Ausbau in den Folgejahren erheblich gehemmt“, erklärt Simon Müller, Direktor bei der Organisation Agora Energiewende. „Dadurch sank die Nachfrage nach neuen Anlagen in Deutschland stark, und Firmen suchten sich andere Märkte.“
Mittlerweile aber hat sich die Stimmung gedreht. Ausschlaggebend war die Protestbewegung Fridays for Future der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg. Die Grünen sitzen nun in der Bundesregierung. Und der russische Angriff auf die Ukraine beschleunigt den Abschied von den fossilen Energiequellen. So will die Regierung nun die Leistung der Windkraftwerke an Land in den kommenden zehn Jahren ungefähr verdoppeln.
Aber ist die angeschlagene Branche überhaupt in der Lage, das zu leisten? „Die neuen ehrgeizigen Ausbauziele können das Heruntertrudeln der Windindustrie in Deutschland und Europa auffangen“, sagt Verbandschef Axthelm, „noch ist genug Substanz vorhanden.“Der Unterschied zur Solarkrise vor zehn Jahren: Damals verschwand die Herstellung der Zellen, eine Kerntechnologie, größtenteils aus Deutschland, unter anderem weil sie der chinesischen Billigkonkurrenz nicht gewachsen war. Die zentralen Komponenten der Windkraftwerke – Gondeln, Getriebe, Generatoren, Türme – werden in Europa gefertigt. Die Wertschöpfungskette ist noch nahezu komplett. Außerdem spielt die Konkurrenz der chinesischen Unternehmen auf dem Weltmarkt bisher keine entscheidende Rolle, sie fertigen vor allem für ihren Heimatmarkt. Die Chancen für die Renaissance der Windindustrie stehen also nicht schlecht. Die Entwicklung wird jedoch davon abhängen, wie schnell aus dem Politikwechsel konkrete Aufträge für die Industrie werden.