Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Kollektiv als Kunst
Die documenta 15 in Kassel ist geprägt von Künstlern aus dem Globalen Süden und ihrer kritischen Perspektive auf Europa
KASSEL - Die wohl kleinste Botschaft der Welt steht derzeit in Kassel. Prominent platziert zwischen einer Statue zu Ehren von Friedrich II., vor langer Zeit Landgraf von Hessen-Kassel, und dem von ihm initiierten Fridericianum, einem Museum. Es ist die „Aboriginal Embassy“des Künstlers Richard Bell, eines indigenen Australiers: Ein grünes Zelt, offen, innen läuft ein Film über den Widerstand der Indigenen. „White Invaders you are living on stolen Land“(„Weiße
Eindringlinge, ihr lebt auf gestohlenem Land“) steht auf einem Schild neben der Botschaft. Der seit Jahrzehnten tätige Bell sagt im Gespräch, es brauche keine Hoffnung für marginalisierte Menschen wie die seinen. Es brauche Taten. Und setzt damit einen Grundton der documenta 15, der weltweit vielleicht bedeutendsten Ausstellung für Gegenwartskunst.
Folgt man den Stätten der Schau – nicht einfach bei mehr als 30 Ausstellungsorten verteilt übers Stadtgebiet – entdeckt man unterhalb der documenta-Halle einen bengalischen Küchengarten,
dessen Ernte man auch selbst genießen darf. Am jenseitigen Fuldaufer basteln Kinder gemeinsam mit Künstlern an einer Brücke, die nach den 100 Tagen Ausstellung als Spielplatzgerät dienen soll. Auch nahe des von Autoverkehr umtosten Hauptbahnhofs findet sich ein vietnamesischer Garten in einem Hinterhof, der nicht bloß Zierde sein soll. Nachhaltigkeit und Umwelt, weitere Grundtöne dieser sehr anderen Kunstausstellung.
Die documenta 15 will brechen mit ihren 14 Vorgängern, deren Werke noch heute das Kasseler Stadtbild prägen: Sei es die gigantische blaue Spitzhacke des Künstlers Claes Oldenburg an der Fulda (1982) oder die Skulptur „Man walking to the sky“von Jonathan Borofsky (1992) am Hauptbahnhof. Zwei Kunststars der westlichen Hemisphäre, von der sich die Kuratoren der documenta 15 meilenweit entfernen wollen – weiblicher, queerer (Sammelbegriff für Haltungen oder Identitäten jenseits des nach Kuratorenmeinung dominierenden heterosexuellen Gesellschaftsdiskurses), kapitalismuskritischer soll es die kommenden 100 Tage zugehen.
Ruangrupa, so heißt das aus zehn Mitgliedern bestehende indonesische Kuratoren-Kollektiv, lehnen die Mechanismen des globalen Kunstmarktes ab. In ihren Augen besteht Kunst aus dem, was Menschen in kollektivem Austausch, rücksichtsvoll und ressourcenschonend produzieren. Statt eines Objektes, welches letztlich fetischisiert in einem Museum oder – noch schlimmer – einem Privathaushalt verschwindet, soll es ein aus dem Kollektiv heraus entstehender, nicht endender, interdisziplinärer Prozess sein.
In den vergangenen Jahren hat Ruangrupa dafür viele Künstler, vor allem Kollektive, eingeladen, die wiederum weitere Kollegen einluden. So sollen dieses Jahr rund 1500 Künstler an der documenta beteiligt sein.
Oberstes Motto dabei: „Lumbung“. Im Indonesischen bezeichnet das eine Reisscheune. Ruangrupa umschreibt damit die Arbeitsweise des Kollektivs. In indonesischen ländlichen Gemeinschaften wird die überschüssige Ernte in einvernehmlich genutzten Reisscheunen gelagert und zum Wohle aller nach gemeinsam definierten Kriterien verteilt. Dabei hat jedes Lumbung-Mitglied auch soziale Verpflichtungen, das Ganze ähnelt einer Kooperative. Die Vision ist die einer Gemeinschaft, die zusammen Produkte rücksichtsvoll unter allen Mitgliedern aufteilt.
Das können abstrakte Ideen sein, aber ganz konkret auch Nahrungsmittel oder Geld, etwa durch den Verkauf von Merchandise. Mehr als 40 Millionen Euro hat die documenta 15 gekostet, und ganz ohne Geld lässt es sich schließlich auch im durch die Kollektive geschaffenen „Ekosistem“nicht leben. Darunter verstehen die Künstler zusammenarbeitende Netzwerkstrukturen – frei von Hierarchien sollen Wissen oder Ressourcen verbreitet werden.
Das alles verwirklicht sich an vielen Ausstellungsorten in Kassel eher als ein Festival denn eine Kunstschau: Workshops, Partys, Konzerte, Lesungen, gemeinsames Kochen oder Gärtnern. Es geht um Kooperation und Austausch. Ganz deutlich wird das am altehrwürdigen Fridericianum: Es ist nun die „Fridskul“. Die mächtigen Säulen am Eingang sind bemalt und bekritzelt. Auch hier Anklagen an Konsum, Kapitalismus oder den Westen – so weit, so documenta-typisch. Innen aber eine andere Welt. Bunt bekritzelte Wände und Schaubilder mit
Denkprozessen und Erkenntnissen der Künstler, eine Werkstatt, Spielecken für Kinder zum Austoben, eine Küche. Künstler mit Familien leben hier. Aus dieser Schule mit HippieCharme soll eine neue Bildungseinrichtung erwachsen.
Kunst, so sehen es die Kollektive, ist Interaktion mit der Umgebung, ist gelebte Solidarität. Immer wieder wird auf die Schuld von Kapitalismus, dem Westen oder den Weißen speziell an den Lebensumständen im Globalen Süden hingewiesen. Die Dauerbeschallung mit Varianten dieser lehrend-aktivistischen – und auch einseitigen – Ausübung von Kunst ermüden den Betrachter bald. Das aufklärerische Bemühen lässt die Ästhetik und Kraft der Kunst verarmen.
Beispiele gegen diese These gibt es natürlich auch: etwa Nguyen Trinh Thi. Die vietnamesische Künstlerin und Filmemacherin hat ein atemberaubendes Live-Theater im Rondell geschaffen, aus dessen Betrachtung man sich kaum losreißen kann. Vielerorts gelingt dies aber eben nicht.
Ob sich das angesichts der Spielstätten-Dimensionen und der Tatsache, dass es sich bei den Besuchern meist um Tagestouristen handelt, noch ändern wird, bleibt abzuwarten. Denn die Kunst der Kollektive funktioniert nur im pulsierenden sozialen Geflecht. Vielleicht wird ja die Stadtgesellschaft Teil des „Ekosistem“– es wäre eine reiche Ernte für dieses freundliche, fröhliche, utopistische Ideal einer Reisscheune. Mit Wehmut verlässt man die Schau.