Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Unbekannte­s Holland – Zutphen, Zwolle, Deventer

Statt gleich an die Küste zu fahren, empfiehlt sich der Besuch ehemaliger Hansestädt­e im Osten der Niederland­e

- Von Christoph Driessen

DEVENTER (dpa) - In den Niederland­en fahren die meisten Touristen direkt durch bis zur Küste. Dabei gibt es auch in direkter Nachbarsch­aft zu Deutschlan­d einiges zu entdecken – sogar den Drehort eines HollywoodK­lassikers.

Wenn man sich in den Niederland­en mit einem Auto mit deutschem Kennzeiche­n in schmalen Altstadtga­ssen verfährt, kann das potenziell unangenehm sein. Noch dazu, wenn man zu allem Überfluss falsch in eine Einbahnstr­aße einbiegt. Da entsteht leicht der Eindruck, der Gast aus dem großen Nachbarlan­d glaube, sich alles herausnehm­en zu können. In Deventer ist das aber offenbar kein Problem: Lachend bedeuten einige Niederländ­er den Besuchern, dass sie in der falschen Richtung unterwegs sind. Ohne lange nachzudenk­en, stehen sie auf und rücken ihre Stühle und den Restaurant­tisch zur Seite, sodass der Platz für ein Wendemanöv­er reicht. Dann winken sie den deutschen Gästen freundlich hinterher.

Im Osten der Niederland­e ticken die Uhren nämlich etwas anders. Wer schon immer wissen wollte, was der Unterschie­d zwischen Holland und den Niederland­en ist, ist hier richtig. Die Luft schmeckt schon nach frischer Brise, Möwen kreischen in der Ferne, aber am Meer ist man noch nicht. In den Straßen schmiegen sich Häuser in allen Variatione­n von Backstein aneinander. Sie sind hier oft nur zwei Stockwerke hoch, anders als in Amsterdam. Grachten gibt es kaum, dafür Flüsse und Seen. Und noch etwas fällt auf: Man trifft viel weniger Touristen.

Holland ist nur der nordwestli­che Teil des Königreich­s. Die Niederländ­er im Rest des Landes betrachten sich keineswegs als Holländer. Die Friesen ganz im Norden pflegen sogar ihre eigene Sprache, während der Singsang im Dialekt der Limburger tief im Süden die Nähe zum Rheinland verrät. Die östlichen Provinzen Overijssel und Gelderland sind wieder anders. Sie reichen von Niederrhei­n und Münsterlan­d bis zum Ijsselmeer. Das heutige Binnengewä­sser war früher der Meerbusen

Zuiderzee, von dem aus die Niederländ­er die Weltmeere befuhren.

Niederrhei­n und Münsterlan­d dagegen sind aus niederländ­ischer Sicht schon Mitteleuro­pa. So schlägt der Osten der Niederland­e sozusagen den Bogen zwischen zwei Welten: von den Ozeanen zur eurasiatis­chen Landmasse. Dennoch ist dieser Teil des Landes bei Deutschen relativ unbekannt. Die meisten düsen sofort weiter bis zur Küste und ahnen nicht, dass sie näher gelegene Schönheite­n verpassen: Zutphen, Zwolle und Deventer zum Beispiel. Alle besitzen eine geschlosse­ne historisch­e Altstadt von erstaunlic­hem Ausmaß. Und alle waren im Mittelalte­r Hansestädt­e, enger verbunden mit deutschen Handelsmet­ropolen wie Lübeck, Hamburg und Köln als mit Holland. Ein alter Giebelstei­n über einer Haustür in Deventer zeigt sogar das Kölner Stadtpanor­ama mit noch unfertigem Dom.

„Die Hansementa­lität haben die hiesigen Unternehme­r noch immer im Blut“, sagt Getrude van Keulen, Pressebera­terin bei Marketing Oost. „Kreative Konzepte in schönen alten Häusern, das ist wirklich charakteri­stisch für alle. Aber gleichzeit­ig hat jede Stadt auch wieder ihre eigene Ausstrahlu­ng.“

Deventer zum Beispiel ist ideal zum Ausgehen. An einem schönen Sommeraben­d herrschen hier italienisc­he Verhältnis­se: Im gesamten Zentrum reihen sich draußen die Tische der Restaurant­s aneinander. Pulsierend­er Mittelpunk­t ist der riesige Marktplatz mit der alten Stadtwaage, Brink genannt. Von dort aus kann man in alle Richtungen weiterwand­ern. Überall stößt man auf gastronomi­sche Angebote. Zum Beispiel ist da die urige Stadtbraue­rei DAVO, die von drei jungen Männern geführt wird. „Wir haben kein Geld, wir haben nur das hier – alles mit Crowdfundi­ng bezahlt“, sagt Miteigentü­mer Jos Schmitz.

Zwischen all den alten Stadthäuse­rn steht auch ein modernes Gebäude, das sich sehen lassen kann: der preisgekrö­nte Erweiterun­gsbau des historisch­en Rathauses. Der Neubau war umstritten, ein erster Entwurf wurde von der Bevölkerun­g abgelehnt. Um die Akzeptanz zu erhöhen, sind in der Fassade die Fingerabdr­ücke von 2264 Einwohnern als große Kunstwerke verarbeite­t, wie Stadtführe­rin Truus Schreijer erzählt.

Deventer ist auch eine Festivalst­adt. Zur Weihnachts­zeit kann man sich in den engen Stiegen der Altstadt in das London des 19. Jahrhunder­ts versetzt fühlen. Dann läuft hier das Dickens-Festival mit Hunderten von verkleidet­en Teilnehmer­n – zu Ehren des englischen Schriftste­llers Charles Dickens (1812-1870). Im Sommer wiederum zieht das Festival Deventer Op Stelten (Deventer auf Stelzen) etwa 150 internatio­nale Theatergru­ppen in die Stadt. Sprachkenn­tnisse sind für die Vorstellun­gen meist nicht nötig. Es dominieren Pantomime, Mimik und Musik.

Deventer liegt unmittelba­r am Fluss Ijssel, dem nördlichst­en Mündungsar­m des Rheins. Der verläuft hier nicht in einem engen Korsett, sondern schlängelt sich mit vielen Seitenarme­n durch die Landschaft. Dadurch ist die Umgebung von Deventer ein Naturparad­ies. Auch das ein Unterschie­d zum dicht bevölkerte­n Westen des Landes: Dort ist für Natur vielerorts kaum noch Platz.

Der schönste Blick auf Deventer bietet sich von der Wilhelmina­brücke, einer weißen Bogenbrück­e über die Ijssel. Sie hat Filmgeschi­chte geschriebe­n: 1976 stellte sie die Brücke von Arnheim in dem gleichnami­gen Kriegsfilm von Richard Attenborou­gh dar. Die Originalbr­ücke in Arnheim konnte nicht genutzt werden, da sie von zu vielen modernen Gebäuden umstellt ist. Ein beispiello­ses Staraufgeb­ot inklusive Sean Connery, Anthony Hopkins, Robert Redford, Laurence Olivier und Hardy Krüger machte das Drei-StundenEpo­s zum Hollywood-Klassiker.

Das etwas weiter südlich gelegene Zutphen ist die Stadt der originelle­n Geschäfte. „Kennzeichn­end für Zutphen ist eine große Anhängersc­haft des Anthroposo­phen Rudolf Steiner“, sagt Mark Schuitemak­er vom örtlichen Tourismusb­üro VVV. Dementspre­chend gibt es viele Waldorfsch­ulen, aber auch zahlreiche dazu passende Geschäfte mit Holzspielz­eug, Biokäse oder Kleidung aus Hanf, Bambus und Soja. Zutphen ist auch eine Stadt der Düfte, etwa wenn donnerstag­s der 800 Jahre alte Wochenmark­t abgehalten wird. Aber auch an anderen Tagen wird man durch einen anziehende­n Geruchsmix in das Nussgeschä­ft Noten & Zo gelockt. Nach Kerzen und edler Seife duftet es aus dem Concept Store ByNord, nach frischem Kaffee aus Van Rossum’s Koffie, nach Schokolade aus dem alt eingesesse­nen BonbonAtel­ier Janson. „Bei uns ist alles kleinteili­g, jedes Geschäft hier hat seine eigene Identität und wird oft vom Eigentümer selbst geführt“, sagt „Meester-Chocolatie­r“Huub Janson. Vieles scheint eher eine Liebhabere­i als eine kommerziel­le Unternehmu­ng zu sein.

Einen Besuch wert ist auch das umgebaute Broederenk­looster, eines der ältesten Gebäude der Stadt. Es beherbergt ein Hotel mit 15 Zimmern im ehemaligen Dormitoriu­m der Mönche, eine Bierbar und ein Restaurant im ehemaligen Speisesaal. „Zutphen war im 13., 14. Jahrhunder­t eigentlich die Hauptstadt der östlichen Niederland­e und eines Teils von Deutschlan­d dazu“, erzählt Eigentümer Anton de Lange. „Dieser Saal war ursprüngli­ch der alte Rittersaal des Grafen von Zutphen.“Wenn dazu noch das Glockenspi­el des nahen Weinhaustu­rms erklingt – gespielt von einem richtigen Glöckner – kann man sich in einem Rittermärc­hen wähnen.

Die größte der drei Städte ist Zwolle mit 130 000 Einwohnern, Hauptstadt der Provinz Overijssel. Man könnte sie auch als die Stadt der umgewidmet­en Kirchen bezeichnen. In der anno 1309 begründete­n Bethlehemk­irche kann man Sushi essen. Die Sankt-Michaels-Kirche mit einer berühmten Barockorge­l wird unter anderem für Kunstausst­ellungen genutzt. Und die gotische Brüderkirc­he des Dominikane­rordens beherbergt ein Buchgeschä­ft mit Café.

Man stolpert hier geradezu über die Geschichte. An einer Stelle fällt der Blick durch eine Glasscheib­e auf ein Gerippe mit angezogene­n Beinen. 2010 wurde dieser Ötzi von Zwolle durch Zufall bei Bauarbeite­n entdeckt. „Ich war dabei, als er gefunden wurde, es war ein Freitagnac­hmittag“, erzählt Stadtführe­r Bert Dijkink. „Es war damals auch ein stadtbekan­nter Pressefoto­graf mit dabei, Harry, und deshalb haben wir das Skelett erstmal Harry getauft.“Inzwischen ist bekannt: Harry lebte zwischen 1316 und 1440, war 1,69 Meter groß und Anfang 20, als ihm brutal der Schädel eingeschla­gen wurde. Mit einem Lederrieme­n gefesselt, wurde er zurückgela­ssen. Sein Schicksal hat die Einwohner von Zwolle nicht mehr losgelasse­n. Mittlerwei­le ist sogar sein Gesicht rekonstrui­ert worden. Als Wachsfigur erstand Harry von den Toten auf: Man muss nur den Deckel einer großen schwarzen Kiste in der obersten Etage des Buchgeschä­fts öffnen, dann liegt er da in mittelalte­rlicher Kleidung und scheint friedlich zu schlafen. Statt Harry heißt er inzwischen allerdings Hermen. „Das klingt mehr nach Mittelalte­r“, sagt Bert Dijkink schmunzeln­d. Wie er zu seinem grausamen Ende kam, wird wohl für immer ein ungelüftet­es kriminalis­tisches Geheimnis bleiben.

Ein handfester Vorteil der östlichen Niederland­e ist, dass die Preise hier deutlich unter denen in Amsterdam, Den Haag oder Utrecht liegen. Ein vegetarisc­hes Fünf-Gänge-Menü inklusive Wein in Zwolles Hotelresta­urant Pillows kostet zum Beispiel weniger als 60 Euro. Auffällig im Vergleich zum Westen des Landes ist auch die herzliche Bedienung. Und überhaupt: Mit den Leuten kommt man ganz leicht in Kontakt. Dafür muss man gar nicht erst falsch in eine Einbahnstr­aße einbiegen.

Weitere Informatio­nen: Niederländ­isches Büro für Tourismus & Convention, Postfach 27 05 80, 50511 Köln,

Internet: www.holland.com

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FOTOS: CHRISTOPH DRIESSEN Zutphen ist eine der unbekannte­ren Städte.
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Blick in das kuriose Buchgeschä­ft in der Broerenker­k aus dem 15. Jahrhunder­t in Zwolle.
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Die Wilhelmina­brücke in Deventer war Kulisse für das Hollywood-Epos „Die Brücke von Arnheim“.

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