Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Wenn das Reh zweimal klingelt
Wildtiere suchen Ruhe in den Gärten der Bannegg- und Federburgstraße in Ravensburg
RAVENSBURG - Die Ravensburger Federburgstraße ist das Revier eines Rehs. Oder mehrerer. Jedenfalls berichten Anwohner, dass das Reh auf unserem Foto und Video seit über einem Jahr dabei beobachtet wird, wie es gelassen in den Gärten umherund an den Haustüren entlangstreift. Das wundert weder Jäger noch Naturund Umweltexperten. Da die Menschen ihre Freizeitaktivitäten immer mehr in den Wald verlagert haben – verstärkt seit der CoronaPandemie – weichen die Wildtiere auf der Suche nach Ruhe in größere Gärten besiedelter Gebiete aus. Besonders beliebt bei Rehen sind der Bereich Bannegg- und Federburgstraße in Ravensburg sowie die Molldiete.
Doch nicht nur die scheinen die Straßenzüge für sich eingenommen zu haben. „Wir haben auch Füchse und Dachse. Teilweise empfinden die Tiere dort tatsächlich mehr Ruhe als im Wald“, sagt Klaus Gieseke, Sprecher der Jagdgesellschaft Ravensburg Ost. Der Wald sei mittlerweile für alle da, nur nicht mehr für die, deren Lebensraum er eigentlich ist. Der Mensch führe nahezu alle Sportarten im Wald aus und vertreibe damit das Wild.
Seit rund acht Jahren beobachtet Willi Mayer, Vorstand des Naturschutzbundes Ravensburg, das Phänomen „Als die Tiere den Wald verließen“. Druck auf die Entwicklung habe die Corona-Pandemie gemacht. Die neu gefundene Zeit verbringen die Menschen seitdem zwischen den Bäumen, suchen dort auch einen Ausgleich zum Homeoffice. „Selbst um 5 Uhr morgens trifft man Jogger im Wald. Gerade da haben die Rehe eine ihrer zahlreichen Phasen, in denen sie ungestört äsen (Anm. d. Red.: fressen) möchten“, erzählt Willi Mayer.
Ganz besonders verheerend schätzt Klaus Gieseke den Einfluss der Mountainbiker ein, die wie Pilze aus dem Boden geschossen seien. Er sagt: „Sie richten überall im Wald Trails ein, obwohl das laut dem baden-württembergischen Forstgesetz verboten ist. Es wird eben nicht sanktioniert.“Tatsächlich hätten Spaziergänger ihm schon gestanden, dass ihnen die Mountainbiker unheimlich sind. „Mit ihren Helmen und den Brustpanzern sehen die Fahrer ja auch ein bisschen aus wie mittelalterliche Ritter“, merkt der Jäger an. Dass Wildtiere in die Siedlungen getrieben werden, liege aber nicht allein an den Freizeitaktivitäten der Bürger, sondern an einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Das gilt für die vermehrte Nutzung der Flächen durch die Landwirtschaft, genauso jedoch für die Menschen, die ihre Hunde im Wald nicht anleinen. „Leider haben wir solch unvernünftige Leute. Wenn ein Hund einmal Wild gehetzt hat, wird er es immer wieder tun. Man muss sie im Wald zwingend anleinen“, so Gieseke. Dann wäre Wild und Mensch schon viel geholfen.
Die meisten Menschen freuen sich ein Wildtier in ihrer Nähe zu sehen, sagt Klaus Gieseke. Auch für die Bildung der Kinder sei das von Vorteil: „Es wäre schade wenn wir zwar wissen wie viele Elefanten in der Serengeti leben, aber fast nie ein heimisches Tier in freier Wildbahn erleben dürften.“Reinecke, Grimbart und Co. suchen zwischen den Häusern nicht nur Ruhe, sondern auch Nahrung.Das stört einige Gartenliebhaber dann doch, denn gerade Rehe äsen mit Genuss Rosenknospen
und Tulpen, junge Gräser und Kräuter. „Ein Bekannter von mir hat etwa 50 Rosenstöcke. In einem Jahr hat kein einziger Busch Blüten getragen, weil die Knospen alle zuvor von Rehen geäst wurden“, berichtet Willi Mayer. Bei manchen gehe die Geduld irgendwann auch zu Ende, doch zu machen sei da nicht viel.
Mayers Erfahrungen nach helfe kein Hausmittelchen gegen den Appetit, den die Rehe beispielsweise auch in den vielen wilden Gärten der Molldiete an den Tag legen. Soviel er wisse, leben dort inzwischen sechs Rehe. Menschen, die etwas auf blühende Gärten halten, könnten höchstens einen Zaun ziehen und der müsse auch an die zwei Meter hoch sein. So ein Reh springe laut Mayer schon einmal 1,5 Meter aus dem Stand über ein Hindernis.
Der Nabu-Experte glaubt, dass das gezielte Ausweisen und Respektieren von Wildruhezonen eine Lösung sein könnte, damit sich die Waldtiere in ihrem ursprünglich Lebensraum wieder wohler fühlen. Übrigens: Auf Wild schießen darf kein Jäger in der Nähe von Siedlungen. Bambi ist also zumindest von dieser Warte aus sicher.
Zum Hintergrund: Da das Reh stets mit Sprüngen Deckung im dichten Unterholz oder Gebüsch sucht, wird es laut der Deutschen Wildtierstiftung dem sogenannten „Schlüpfertypus“zugerechnet. Es hat einen ausgeprägten Geruchssinn und kann einen Menschen auf mehr als 300 Meter Entfernung wittern. Ein etwa 20 Kilogramm schweres Reh braucht zwischen zwei und vier Kilogramm Grünmasse pro Tag. Es kann bis zu zwölf Jahre alt werden.
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