Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Vom Obdachlosen zum Helfer in Lindau
Wachsende Armut und Menschen, die große Probleme haben, einen Wohnung zu finden
LINDAU - Marco Tiltmann hilft auf einem Bauernhof in Hergensweiler und kümmert sich um Kühe, Ochse und ein Kalb. Gegen seine Mithilfe darf er auf dem Hof wohnen. Dass er ein Obdach hat, ist für den jungen Mann nicht selbstverständlich. Denn er schlief auch schon in einem Auto oder lebte im Zelt. Ist Marco Tiltmann gerade nicht im Stall, gibt er bei der Lindauer Bahnhofsmission Essen aus und hilft bei anderem. Er ist froh, dass er eine Aufgabe hat. „Ich mache das gerne, weil mir auch schon geholfen wurde“, sagt er. Immer mehr Menschen benötigen wie er Hilfe von der Lindauer Bahnhofsmission.
Nachdem Marco Tiltmann auf dem Jakobsweg von seiner Heimat aus unterwegs war, landete er vor einem Jahr in Lindau. Eine Zeitlang lebte er in der Lindauer Obdachlosenunterkunft. Weil es ihm dort aber nicht gefallen habe, sei er wieder gegangen und übernachtete bei einem Kollegen im Auto. Dann hat er mit Hilfe der Bahnhofsmission die Unterkunft auf dem Bauernhof bekommen.
In den vergangenen zwei Jahren melden sich immer mehr Menschen bei der Lindauer Bahnhofsmission, die soziale Unterstützung brauchen. Ob bei der Suche nach einem Obdach, bei der Jobsuche, beim Anträge stellen oder sie brauchen beispielsweise Hilfe beim Ausmachen eines Arzttermins. Vor allem Corona hat die Situation befeuert.
Vor der Pandemie hat die Bahnhofsmission noch hauptsächlich Reisenden geholfen. Das hat sich mittlerweile gedreht. Hat die Bahnhofsmission vor 2020 120 Menschen im Monat bei der Wohnungssuche, Versorgung und anderen geholfen, sind es mittlerweile monatlich 450.
Was die Gründe dafür sind, dass immer mehr Menschen sozial unterstützt werden müssen, darüber kann die Chefin der Lindauer Bahnhofsmission auch nur mutmaßen. „Die bedürftigen Menschen, die zu uns kommen, hatten auch schon vor 2020 kein einfaches Leben“, so Schäle.
„Ich habe den Eindruck, dass so manches Schicksal durch die Krise in den letzten beiden Jahren sichtbarer wurde oder gar eskaliert ist.“
Dazu gehört auch die Situation von obdachlosen Menschen, die eine Wohnung suchen. Mindestens jeder Zweite, der sich bei ihr meldet, finde keine Wohnung, sagt Conny Schäle. Eher mehr. Warum trotz vorhandenem Wohnberechtigungsschein kein Wohnraum zugeteilt wird, müsse noch mit den zuständigen Stellen erörtert werden. Im Winter sei es noch einfacher die Menschen unterzubekommen, weil dann Ferienwohnungen oder Zimmer in Hostels frei sind – im Sommer stünden viele dann wieder auf der Straße.
Auf Anfrage bei der Lindauer Wohnungsgesellschaft GWG sagt Geschäftsführer Alexander Mayer: „Jemand, der in einer Notlage ist, kommt bei uns auch unter.“. Die Situation dieser Menschen würde man sich gesondert anschauen.
Das Problem ist laut Schäle trotz allem: Es besteht eine Versorgungslücke bei den Betroffenen. Trotz vieler helfender Stellen, müssten Betroffene Eigeninitiative an den Tag legen, zu der sie oftmals nicht in der Lage sind. Es müssten Anträge gestellt, Nachweise erbracht und Termine eingehalten werden. „Eine direkte Betreuung am Menschen ist notwendig“, sagt die Bahnhofsmissions-Chefin. Die Frage sei: Was hilft wem? Und die können man nicht generell beantworten, sondern man müsse auf jeden Einzeln eingehen. „Es gibt nicht den Standard-Obdachlosen.“
Es brauche eine Stelle, von der die Menschen „in entspannter Atmosphäre individuell beraten werden, wo sie über ihre persönlichen Probleme reden und ihre Ressourcen entdecken können.“Die Bahnhofsmission selbst komme da so langsam an ihre Grenzen – auch wegen fehlender ehrenamtlicher Mitarbeiter.
Lösen könnte das eine Betreuungsstelle. Um die ins Leben zu rufen, hat der Gemeindepsychiatrischen Verbund im Landkreis Lindau (GPV) im vergangenen Jahr die Arbeitsgruppe „Wohnungslosigkeit“gegründet. Es gebe zwar seitens der Kommunen und des Landratsamts unterschiedlicher Hilfeangebote, aber gerade für wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen sei es schwierig, den Zugang zu den erforderlichen Hilfen zu finden, schreibt der GPV-Vorstand Klaus Bilgeri auf Anfrage. „Die sozialen Schwierigkeiten sind in diesen Situationen häufig vielschichtig gelagert.“Deshalb sei eine Anlaufstelle hilfreich.
Die Arbeitsgruppe hoffe auf Fördermöglichkeiten für Modellprojekte in der Wohnungsnothilfe. Die Diakonie Kempten Allgäu habe inzwischen ihr Interesse bekundet, entsprechende Fördermittel für ein Modellprojekt in der Region zu beantragen.
Marco Tiltmann wäre in einer Wohnung nicht glücklich geworden. Davon geht zumindest Conny Schäle aus. Bei ihm müsse das Wohnen mit einer Aufgabe verknüpft sein, sagt sie. „Junge Leute brauchen eine Aktivität.“
Deshalb macht Marco Tiltmann auch die Arbeit in der Bahnhofsmission so viel Spaß. Erst vergangene Woche habe er einer älteren Frau, die den Zugbegleiter nicht verstanden habe, eine Verbindung am Handy herausgesucht. „Jeden Tag passiert etwas anderes und es ist nie eintönig“, sagt Tiltmann, während er am Tresen in dem kleinen Büro der Bahnhofsmission am Lindauer Inselbahnhof steht. Neben ihm seine Kollegin Jutta Fiehl. Sie ist eine von den Ehrenamtlichen bei der Bahnhofsmission und fast immer da. „Weil wir zu wenige sind“, sagt sie. Aktuell hat die Bahnhofsmission von neun bis 14 Uhr geöffnet. Eigentlich möchten sie aber wieder bis 16 Uhr ihre Türen aufmachen – denn die Hilfe der Anlaufstelle wird dringend benötigt.