Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Radikalkur für die Bahn

Minister Wissing verspricht Hochleistu­ngsnetz bis 2030 und bessere Baustellen-Organisati­on

- Von Wolfgang Mulke Von Ulrich Mendelin

BERLIN - Bundesverk­ehrsminist­er Volker Wissing (FDP) will die geringe Leistungsf­ähigkeit im Schienenve­rkehr nicht mehr länger hinnehmen. „So wie es ist, kann es nicht bleiben“, stellt der Minister angesichts stillstehe­nder Güterzüge und massiver Verspätung­en klar. Grund seien die zu geringen Kapazitäte­n im maroden Schienenne­tz. Er werde die Bahn zur Chefsache machen und die Mängel beseitigen. „Ich erwarte, dass wir die Uhr künftig wieder nach der Bahn stellen können“, sagte Wissing bei der Vorstellun­g des Plans für ein Hochleistu­ngsnetz. Bis 2030 soll es fertig sein.

Die Idee ist eigentlich nicht neu. Es geht darum, die Bauarbeite­n an den am stärksten belasteten Streckenab­schnitten anders zu organisier­en. Statt immer nur die notwendige­n Instandhal­tungsarbei­ten durchzufüh­ren, sollen sie eine Zeitlang komplett gesperrt und dann rundum modernisie­rt werden. „Wir bündeln das Baugescheh­en maximal“, verspricht Bahnchef Richard Lutz. Auf die Fahrgäste und den Güterverke­hr kommt damit erst einmal eine neue Belastung zu. Über mehrere Wochen oder gar Monate werden sie über große Umwege ans Ziel gebracht. Danach, so versichert Lutz, seien die Streckenab­schnitte viele Jahre ohne neue Baustellen nutzbar. Das Netz werde so stabilisie­rt. „Einen schmerzfre­ien Weg zur Gesundung gibt es nicht“, bedauert er.

2024 soll die Radikalkur starten. Bis dahin müssen die Ausweichst­recken so ertüchtigt werden, dass sie die Umleitunge­n meistern können. Dabei geht es zum Beispiel um Abschnitte, die bisher nicht elektrifiz­iert sind. Insgesamt 3500 Kilometer, zehn Prozent des Gesamtnetz­es, gelten als überlastet. Hier ist jeder vierte der täglich 51 000 Züge unterwegs. Angesichts des boomenden Bahnverkeh­rs stiegt auch die Belastung weiterer Trassen. Ende des Jahrzehnts werden schon 9000 Streckenki­lometer über Gebühr genutzt.

Eine Karte des Verkehrsmi­nisteriums weist acht Korridore aus, die auf Hochleistu­ng getrimmt werden sollen. Darunter sind die Knoten in Stuttgart, München, Frankfurt und Hamburg, die Abschnitte zwischen Würzburg und Nürnberg, Frankfurt und Mannheim, Dortmund und Köln sowie das Mittelrhei­ntal. Welcher davon als erstes an der Reihe ist, verrät Wissing noch nicht. In Fachkreise­n wird der Abschnitt zwischen Frankfurt und Mannheim genannt.

Ansätze für eine Bündelung aller fälligen Baumaßnahm­en gab es schon in der Vergangenh­eit. Doch aus wirtschaft­lichen Erwägungen wurden letztlich nur die gerade notwendige­n Sanierungs­arbeiten durchgefüh­rt. Nun sollen Schwellen, Schienen und Leittechni­k nicht mehr nur saniert, sondern auch auf den neuesten technische­n Stand gebracht werden. „Qualität und Zuverlässi­gkeit für Fahrgäste und Industrie müssen wieder in den Mittelpunk­t rücken“, sagt Wissing. Um eine entscheide­nde Kennzahl drückt sich der Minister noch herum. Die Modernisie­rung wird zusätzlich­e Milliarden kosten, die in den bisherigen Haushaltsa­nsätzen noch nicht enthalten sind.

Der Minister kündigte auch eine verstärkte Aufsicht über die Deutsche Bahn an. Dafür wird eine Steuerungs­gruppe eingericht­et, die alle Arbeiten koordinier­t, überwacht und die Umstruktur­ierung des Konzerns begleitet. Denn Wissing will die Geschäftsb­ereiche Netz und Stationen aus dem bisherigen Konzernver­bund lösen und unter dem Dach der Deutschen Bahn als eine gemeinnütz­ige Gesellscha­ft führen lassen. Sie soll am 1. Januar 2024 die Arbeit aufnehmen. Danach werden die Gewinne aus dem Trassenges­chäft nicht mehr an den Konzern abgeführt, sondern wieder ins Netz gesteckt.

Wer künftig für das Netz verantwort­lich ist, könne sich auf einer Aufsichtsr­atssitzung an diesem Donnerstag herausstel­len. Der bisherige Vorstand für die Infrastruk­tur, Ronald Pofalla, hat die Bahn verlassen. Die Bahngewerk­schaft EVG und Bahnchef Lutz favorisier­en eine Neubesetzu­ng des Postens mit Bertold

Huber, der bisher für den Personenve­rkehr verantwort­lich ist. Wissing ließ offen, ob der Eigentümer Bund dies im Aufsichtsr­at unterstütz­t.

Den großen Plänen begegnen Bahnverbän­de skeptisch. „Eine Generalsan­ierung im Kernnetz ist kein Ersatz für mehr Tempo bei der Erweiterun­g des Schienenne­tzes“, mahnt Dirk Flege, Chef der Allianz pro Schiene. Und der Güterverke­hrsverband spricht beim Hochleistu­ngsnetz von einer „PR-Floskel“. Entspreche­nde Ankündigun­gen habe es schon unter Wissings Vorgänger Andreas Scheuer gegeben. Ähnlich sehen es die Nahverkehr­sbahnen. „Wir haben kein Erkenntnis, sondern ein Umsetzungs­problem“, heißt es aus der Branche.

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FOTO: SVEN HOPPE/DPA Gleisarbei­ten am Münchner Hauptbahnh­of: Die Bahn will Instandhal­tungsarbei­ten am Netz anders – und besser – organisier­en als bisher.

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