Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Vom Streich zur schweren Straftat
Soziale Netzwerke wie TikTok gehören zur Jugendkultur. Der Trend zur Selbstdarstellung kann aber auch zu Brandstiftungen und Gewaltandrohungen an Schulen führen.
RAVENSBURG - An einem Morgen stand es Schwarz auf Weiß und in dicken Lettern auf einer Toilettentür im Walter-Knoll-Schulverbund in Bad Saulgau: „Amoklauf!“Darunter: „Merkt es euch – und gebt es weiter!“Ein konkretes Datum wurde ebenfalls genannt. Wer an Schule und Schultoilette denkt, mag zwar sowieso von (schlechten) Scherzen ausgehen. Wer sich jedoch an vergangene Amoktaten erinnert – wie erst Anfang des Jahres auf dem Unicampus in Heidelberg, als eine Studentin erschossen wurde, oder zuletzt an einer US-Grundschule, als 21 Menschen starben – dem stellen sich bei einer solchen Schmiererei die Nackenhaare auf.
So muss es auch den Schülern in Bad Saulgau ergangen sein, die vergangenen Monat die vermeintliche Warnung entdeckten und sofort die Schulleitung informierten. „Wir haben den Schriftzug fotografiert und umgehend entfernt“, sagt Schulleiter Armin Masczyk. Gleichzeitig wurde die Polizei alarmiert, die Ermittlungen aufnahm und die nächsten Tage mit Streifenwagen und Patrouillen in Schulnähe Dauerpräsenz zeigte. Man weiß ja nie. Auch wenn Masczyk heute sagt: „Wir haben das nicht als echte Bedrohung eingeordnet.“Als der erste Schrecken verflogen war, drängte sich vielmehr ein anderer Verdacht auf: dass es sich bei der Ankündigung von Mord und Blutrausch um eine sogenannte Challenge (Herausforderung) handelt, die über das Video-Netzwerk TikTok verbreitet wurde.
TikTok. Das klingt so harmlos, wie es in den allermeisten Fällen auch ist. Auf der Videoplattform können die oft jugendlichen Nutzer Musikfilmchen ansehen und selbst kurze Clips aufnehmen, die sich mit Spezialeffekten und Filtern aufhübschen lassen. Mit diesen simplen Mitteln ist TikTok inzwischen die weltweit am schnellsten wachsende App, Schätzungen zufolge wird sie noch in diesem Jahr auf 1,5 Milliarden User kommen. Beliebt sind vor allem die Herausforderungen, bei denen es oft um witzige Tänze geht, die, wenn originell in Szene gesetzt, millionenfach angeschaut und nachgeahmt werden. Längst boomen auch andere
Herausforderungen, wie „Zeig-deine Muskeln-Challenge“, „Make-upChallenge“oder „Trend-Food-Challenge“, der Nachwuchs futtert, schminkt sich und verrenkt die Gliedmaßen, die Clips können albern, abgefahren oder informativ sein. Und in Ausnahmefällen auch lebensgefährlich. So löste im vergangenen Jahr in Italien der Tod einer Zehnjährigen eine Debatte über den Umgang von Kindern mit dem Handy aus. Das Mädchen soll an der TikTok-Challenge „Blackout“teilgenommen haben – bei der man sich selbst die Luft abschnürt und dabei filmt.
Zu einem gefährlichen Trend hat sich auch die „Devious-Licks-Challenge“entwickelt. Sie begann Ende vergangenen Jahres mit dem Video eines TikTokers, der in der Schule gestohlene Corona-Masken aus dem Rucksack zieht und dazu ironisch prahlt: „Ich hätte wohl eine Maske von zu Hause mitbringen sollen.“.Innerhalb einer Woche wurde das Video 239 000 mal angesehen. Kurz darauf ging der Film eines anderen TikTokers viral, der darin einen in der Schule geklauten Desinfektionsspender präsentiert – innerhalb von nur zwei Tagen wurde er 7,2 Millionen Mal angeklickt. Die Folge des globalen Booms: Diebstahl, Vandalismus und Brandstiftung an Schulen allerorts, auch bei uns im Süden.
So brannte erst im Februar in Leonberg bei Stuttgart eine Schultoilette verbunden mit einem Schaden von 100 000 Euro, in Fellbach wurde ein Handtuchalter abgefackelt, Feuervorfälle gab es auch in Ludwigsburg, Nürtingen und anderswo. Bei einem Brand auf einer Schultoilette in Würzburg wurden sieben Schülerinnen zwischen zwölf und 14 Jahren verletzt, eines der Mädchen musste ins Krankenhaus. „Auf TikTok gibt es sicherlich auch lustige und interessante Challenges. Aber das ist ein Trend, den wir nicht befürworten“, erklärte die Polizei mit dem Hinweis: „Vorsätzliche Brandstiftung ist eine Straftat, auf die bis zu zehn Jahre steht.“
Der Zusammenhang mit TikTok ist zwar nur selten eindeutig nachweisbar, liegt oft aber nahe, finden sich auf der Plattform doch mit Leichtigkeit Videos wie „How to destroy the school toilet“oder „Drei Wege, deine Schule zu zerstören“, manchmal mit detaillierten Tipps und Anleitungen, wie in einem Ratgeberfilm. Alarmiert von den ständig zunehmenden Taten schickte das Kultusministerium in Baden-Württemberg einen Brief an alle Schulen und Kindergärten im Land, in dem es heißt, in der „Challenge auf der Plattform TikTok geht es darum, beispielsweise durch das Anzünden von Papierhandtuchspendern in den Toiletten, der Verstopfung von Toiletten oder durch die Androhung eines Amokalarms schulfrei zu bekommen“. Das Ministerium bittet daher, „dieses Thema offensiv in der Schule anzusprechen, um die Schülerinnen und Schüler für die Gefahren zu sensibilisieren“.
Das hat Schulleiter Armin Masczyk aus Bad Saulgau getan, zur Genüge und auch schon vor der Amokandrohung auf der Schultoilettentür. Allerdings mit nur temporärem Erfolg, wie er resigniert feststellt. „Das sind Auswüchse der heutigen sozialen Medien. Wir ziehen daraus keine Vorteile, sondern nur Nachteile“,
sagt der Pädagoge, der aber auch ein grundsätzliches Dilemma beklagt: „Es gibt eine gewisse Enthemmung und Verrohung der Gesellschaft, das ist in den Schulen nicht anders.“
Probleme sieht auch Ulrike Wiedmann, Schulleiterin am Bildungszentrum in Meckenbeuren (Bodenseekreis), die aber keinen ganz so großen Bogen schlägt. Am Bildungszentrum war kürzlich ein Klassenbuch erst verschwunden und als es wieder auftauchte, standen darin Einträge ebenfalls mit Androhungen von Gewalt, an einem bestimmten Tag. Schlimm genug und Anlass zur Aufarbeitung im Unterricht, Wiedmann will das Thema verstärkt und nachhaltig angehen, schränkt aber ein: „Früher hat man auch einen Haufen Mist in der Schule gemacht. Da hat es aber kaum jemand mitbekommen. Jetzt geht es viral – und die ganze Welt kann es erfahren.“Was Nachahmung und Eskalation provoziert und verstärkt, ohne ein Bewusstsein für die Folgen. Aber warum ausgerechnet durch TikTok?
„TikTok ist für Jugendliche so interessant, weil sie dort Gemeinschaft erleben, ständig unterhalten werden und so sein dürfen, wie sie sind“, erklärt Christian Reinhold vom Kindermedienland Baden-Württemberg, einer Organisation für Medienerziehung. Sie können, so der Experte, wetteifern, herausstechen und Protest zeigen. Wodurch Heranwachsende ein Forum für ihre typischen Bedürfnisse erhalten, sie auf Klick und Knopfdruck im Mittelpunkt stehen oder amüsiert und als stiller Beobachter daran teilhaben.
Dazu kommt der Reiz an einem Trend zu partizipieren, den die Plattform perfekt herauszukitzeln vermag. „Das Geheimrezept von TikTok ist es, besser als jedes andere soziale Netzwerk die Eigenschaften der Nutzer zu messen“, sagt Reinhold. Um daraufhin passgenau Videos anzubieten, damit der Nutzer in der App möglichst lang verweilt und dabei möglichst viel über sich selbst preisgibt. „Zeit und Daten sind hier die Währung“, erklärt Reinhold.
Dass damit auch Gefahren, in welcher Form auch immer, einhergehen, wissen die Verantwortlichen. So bietet TikTok Jugendeinstellungen an, gibt Studien in Auftrag und veröffentlicht Informationen, zum Beispiel „Challenges und Warnungen einschätzen“. Wie bei anderen sozialen Netzwerken auch, lautet hier die Botschaft: „Es ist uns wichtig, etwas für Jugendliche zu tun.“Wie ernst das Anliegen gemeint ist, bleibt allerdings umstritten. So geriet das Unternehmen Meta (Facebook, Instagram) unter Druck, als eine Whistleblowerin interne Dokumente veröffentlichte, aus denen hervorging, dass Instagram um die schädlichen Auswirkungen auf junge Nutzer wusste, diese aber billigend in Kauf nahm.
Über fehlende Kunden im minderjährigen Alter müssen sich die Anbieter trotz öffentlicher Kritik aber keine Sorgen machen, längst sind Fälle bekannt, wo Kindergartenkinder schon einen Instagramaccount haben. Das mögen zwar noch Ausnahmen sein, laut der KIMStudie (Kinder, Internet, Medien) des Medienpädagogischen Forschungsverbundes
Südwest hat aber schon jeder dritte Grundschüler ein internetfähiges Handy, Tendenz steigend. Das Einstiegsalter ist ohnehin niedriger, weil vorher schon das Familienhandy genutzt wird. Dass in diesem Zusammenhang TikTok erst ab einem Alter von 13 Jahren legal ist, wissen viele Eltern genauso wenig wie um die Altersbeschränkung bei WhatsApp von 16 Jahren.
Medienfachmann Reinhold, der sich seit zehn Jahren mit der Problematik befasst, appelliert daher an die Erziehungsberechtigten, sich von den Kindern zeigen zu lassen, welche Kanäle und Netzwerke sie nutzen, welche Inhalte sie fesselnd finden. „Schaut euch das mit den Kindern an, sagt, was ihr davon haltet, nicht von oben herab, sondern als Ansprechpartner auf Augenhöhe. Wenn die Beziehungsebene von Eltern und Kindern passt, dann lassen sich solche Themen viel besser besprechen und bearbeiten.“
Handlungsbedarf sieht er auch bei der Medienbildung. Zwar fehlt es nicht an Materialien und Veranstaltungen zur Prävention, etwa vom Landesmedienzentrum (LMZ), wann, ob und in welchem Umfang eine Schule das Angebot wahrnimmt, ist ihr jedoch weitestgehend selbst überlassen. Reinhold plädiert daher für einen verbindlichen Internetführerschein in der Grundschule, bei dem der Nachwuchs die Grundlagen lernt: Umgang mit Fotos, Daten, Sprachetikette, Mobbing und Maschen oder blöden Sprüchen, wie sich jemand sperren und blockieren lässt. Also wie Schüler Schaden abwenden und verhindern können. „Solche Sachen passieren eben schon im jungen Alter. Dann ist es nur richtig, den Jugendlichen genauso wie im Straßenverkehr ein Instrumentarium an die Hand zu geben.“Das aber auch einen lustvollen Umgang mit den unbegrenzten und kreativen Möglichkeiten eröffnet. „Es geht nicht darum, alles zu verteufeln. Wir können nicht immer ,Risiko, Risiko, Risiko’ rufen.“Es geht vielmehr darum, dass Internet und Netzwerke Vergnügen machen und bereichern. Und dabei nicht wirken wie ein Brandbeschleuniger.
„Wir haben das nicht als echte
Bedrohung eingeordnet.“Armin Masczyk,
Schulleiter
Es geht nicht darum, alles zu verteufeln. Wir können nicht immer ,Risiko, Risiko, Risiko’
rufen.“Christian Reinhold,
Initiative „Kindermedienland“