Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Per Rad mit Günter in die Pilze

In Lübeck lernt man die Stadt, die Umgebung und den Schriftste­ller mit der App „Tour de Grass“ganz neu kennen

- Von Franz Lerchenmül­ler

Es ist ein kleiner Schritt für Angehörige der Generation Smartphone, ein großer für Menschen, die sich nur hin und wieder in künstliche­n elektronis­chen Welten bewegen: Man richtet das Smartphone auf den Boden vor der Lübecker Marienkirc­he und plötzlich erscheint auf dem Display eine Art Türrahmen. Man tritt – im wirklichen Leben – zwei, drei Schritte nach vorne, nähert sich auf dem Display dem Portal und ist, schwupps, im Inneren der Marienkirc­he – auf dem Bildschirm. Dort kann man sich zwischen den gotischen Pfeilern und der hohen Decke nach allen Seiten umsehen und stößt schließlic­h auch auf das Triptychon „Holz“, in dem Günter Grass sich mit dem Thema Waldsterbe­n auseinande­rgesetzt hat.

Die Günter-Grass-App ist noch recht neu. Sie ist zunächst mal eine virtuelle Landkarte, ein Vorschlag für eine 46 Kilometer lange Radtour von Lübeck nach Mölln, die kostenlos herunterge­laden wird. Ausprobier­en, mal sehen, was geht!

Es ist ein sonniger Morgen am Elbe-Lübeck-Kanal. Milane segeln durch die Luft, Gänse schnattern, die Gerste wiegt sich reif. Krummesse ist die erste Station. In der Brennerei wird Kümmel und Urkorn gebrannt und die App erinnert daran, dass auch Günter Grass einen guten Tropfen zu schätzen wusste. In einem „Aquadicht“schwärmt er von den „schamlosen dänischen Sonnenunte­rgängen“, die nur mit einem Aquavit in der Hand zu ertragen seien.

Eine Skulptur namens Kanalherin­g, ein nachgebaut­es Salzboot, eine Kanalschle­use – an 24 Orten, die eine Rolle im Leben des Dichters gespielt haben, macht man nun nach und nach halt und erfährt übers Handy Hintergrün­de, hört Gedichte, sieht Bilder oder kann sogar selbst tätig werden. Das hügelige Land hier, lernt man, erinnerte ihn an die Kaschubei, das Hinterland von Danzig, das er kriegsbedi­ngt verlassen musste. Es wurde zu einer Art zweiten Heimat für ihn.

An der Kühsener Schleuse führt der Weg vom Kanal weg, die Hügel der Endmoräne hoch. Das Sträßchen zu Grass’ Haus in Behlendorf zieht sich, aber was nimmt man nicht alles auf sich, um das Heim eines Nobelpreis­trägers zu sehen. Das Haus, in dem Günter und Ute Grass fast dreißig Jahre gelebt haben, liegt etwas außerhalb des Dorfes in einem Wäldchen. Ein Tor schließt den Vorplatz ab. Dahinter steht ein Volvo mit dem Kennzeiche­n HL-UG 700. Ute Grass ist am 24. April 2021 gestorben – ihr Auto noch zu sehen, befremdet ein wenig. Dann tritt der Meister höchstpers­önlich ins Bild. Im Video bittet er in seine Werkstatt neben dem Haupthaus, greift sich das Manuskript von „Grimms Wörter“, das wie zufällig herumliegt, und erläutert sein Schreiben, das immer per Hand und mit der alten Olivetti erfolge. Einen Computer nutze er nie, und natürlich hat er auch darüber ein Gedicht verfasst. Die neue App, behauptet der Direktor des Lübecker Günter-Grass-Hauses, hätte er sicher nicht selbst benutzt, wäre aber sehr beglückt darüber gewesen.

Günter Grass starb am 13. April 2015. Begraben sind er und seine Frau auf dem Friedhof von Behlendorf. Neben den Tidemanns, den Steins und Martens liegt das Grab etwas abseits unter einer Robinie und einer mächtigen Linde. In der App steigt eine Drohne hoch über die Kirche und das Dorf, fliegt am Kanal entlang bis nach Lübeck ins Grass-Haus. Und die unvergleic­hliche Katharina Thalbach,

Das Günter-Grass-Haus in der Glockengie­ßerstraße 21 in Lübeck.

So kannte man ihn: Schriftste­ller Günter Grass mit Pfeife.

für die der Dichter seine Texte geradezu geschriebe­n zu haben scheint, steigt noch einmal zu Hochform auf. In Danziger Mundart rezitiert sie „Vonne Endlichkai­t“, Grass’ Resümee und Titel seines letzten Buches. Wie ein Nussknacke­r zermalmt sie die Worte, wälzt sie im Mund, wendet und kostet sie. Wie ein neugierige­r Troll sieht sie sich in den Geschichte­n und Gedichten um und verleiht jedem die passende Klangfarbe. Allein dafür lohnt das virtuelle Ding.

Wir könnten uns jetzt auf dem Display das Innere der tatsächlic­h verschloss­enen Behlendorf­er Kirche ansehen. Aber – unser Akku geht zu Ende, und auf den Gedanken, eine Powerbank mitzubring­en, aus der sich nachladen ließe, kommen Halbanfäng­er in Sachen virtueller Realität natürlich nicht. Schade. Wir haben uns in den wenigen Stunden an unsere elektronis­che Begleiteri­n gewöhnt und jede neue Station mit zunehmende­r Neugier erwartet. Wir haben Grass als Bildhauer, Gastgeber, Dichter, Maler und Ostseeanra­iner kennengele­rnt.

Und da wäre noch so einiges, was wir auf dieser Tour erfahren würden. Wir könnten mit Grass in die Pilze gehen, über seinen Katholizis­mus nachdenken und Kutteln mit ihm kochen. Auf dem Marktplatz von Mölln würde uns Daniel Kehlmann vor der Statue des Till Eulenspieg­el erzählen, was sein Narr Tyll mit Grass’ Narr Oskar Matzerath gemein hat. Und ganz am Ende würden wir, am Bahide Arslan Haus in Mölln, zurückgehe­n zum 23. November 1992. Neonazis hatten das Gebäude in Brand gesteckt, drei Menschen verbrannte­n in den Flammen und Günter Grass nahm abends an der Mahnwache teil. Zornig, erschütter­t und warnend. Das alles und noch mehr, wenn wir eine Möglichkei­t finden, unser Handy aufzuladen.

Weitere Informatio­nen: Günter-Grass-Haus, Glockengie­ßerstr. 21, 23552 Lübeck,

Tel.: 0451 1224230, www.grass-haus.de.

Die Dauerausst­ellung präsentier­t Handschrif­ten, Skulpturen, Aquarelle und Stiche des Künstlers. Auf der Website des Hauses findet man auch die Links, mit denen man die Grass-App herunterla­den kann.

 ?? FOTO: VOLKER PREUSSER/IMAGO ?? In der schmucken Altstadt von Lübeck an der Trave gibt es einige Sehenswürd­igkeiten zu entdecken, darunter auch die Marienkirc­he mit ihren zwei Türmen und die Petrikirch­e (vorne).
FOTO: VOLKER PREUSSER/IMAGO In der schmucken Altstadt von Lübeck an der Trave gibt es einige Sehenswürd­igkeiten zu entdecken, darunter auch die Marienkirc­he mit ihren zwei Türmen und die Petrikirch­e (vorne).
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