Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Angst vor dem Abstieg
Bei USA-Besuch schimpft Ministerpräsident Kretschmann auf Bürokratie daheim
LOS ANGELES - Wer in die USA reist, kann Superlativen nicht entgehen. In Präsentationen von Unternehmen, Verbänden und Universitäten, von denen die 100-köpfige Delegation um Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in der vergangenen Woche viele erlebte, ist gerne die Rede vom Schnellsten, Besten, Ersten, Höchsten. In deutschen Ohren klingt das schnell nach Angeberei. Bei seinem dritten US-Besuch hat sich Kretschmann angepasst. „Wir verstecken uns nicht, wir machen uns nicht mehr klein“, hatte er schon in seiner ersten Rede am Montag in Pittsburgh erklärt.
Es ist das dritte Mal, dass Kretschmann als Ministerpräsident die Vereinigten Staaten besucht. Was ihn hier begeistert, ist die Geschwindigkeit, mit der Innovationen vorangetrieben werden. Die lähmende Trägheit der Bürokratie daheim scheint ihn in seiner dritten und, wie er angekündigt hat, letzten Amtszeit wie kaum ein anderes Thema umzutreiben. Von den Krisen wie Corona und dem russischen Krieg gegen die Ukraine samt deren Folgen abgesehen. Aber, so Kretschmann: „Mein Mantra im Moment heißt: Nicht immer das Wichtige hinter dem Dringlichen zurückstellen.“
Trotz seiner 74 Jahre ist Kretschmanns Blick auf die Zukunft gerichtet. So reist er nicht nur erneut nach Kalifornien, sondern erstmals auch nach Pittsburgh, der einstigen Stahlund Kohlemetropole, die in den 1980er-Jahren einen harten Niedergang erlebte und inzwischen dank exzellenter Universitäten und der Ansiedlung praktisch aller wichtigen Technologieunternehmen boomt. Hunderte Firmen beschäftigen sich entlang einer Straße, der sogenannte Robotic Row, mit Künstlicher Intelligenz und Robotik.
„Die Deutschen waren zuerst da“, berichtet Bill Flanagan von der Pittsburgh Regional Alliance, dem örtliche Wirtschaftsverband. Bosch kam 1999 nach Pittsburgh vor allem wegen der renommierten Carnegie Mellon University. Sie gilt als eine der ersten, die sich mit Computing beschäftigt hat und ist heute weltweit mit führend in der Forschung zu Künstlicher Intelligenz – und entsprechenden Ausgründungen. Mit der CMU hat Bosch das Carnegie Bosch Institut gegründet, in dem Wissenschaft und Wirtschaft an Künstlicher Intelligenz und Robotik forschen, schwärmt Institutsleiter Christopher Martin beim Besuch der Delegation.
Um die Ecke hat Argo AI seinen Hauptsitz. Schon heute sind autonom fahrende Autos der Firma in Miami und Austin unterwegs – allerdings noch mit Sicherheitsfahrern an Bord. Ab 2025 will die Firma in Hamburg autonome Busse der VW-Tochter Moia fahren lassen.
Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) berichtet nach einer Testfahrt verblüfft, wie gut die Technik funktioniere – im Gegensatz zu allem, was er etwa auf den Testfeldern erlebt hat, die Baden-Württemberg für das autonome Fahren eingerichtet hat. Verstecken muss sich der Südwesten aber nicht, betont Franz Loogen, Chef der Landesagentur e-mobil rasch. „Wir sind in keinem Punkt hintendran“, sagt er und spricht von Entwicklung auf Augenhöhe. Ganz wichtig sei dafür eine dauerhafte Kooperation zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.
Vernetzung – dieses Zauberwort, betonen Gesprächspartner in Pittsburgh immer wieder. Statt Ellbogenmentalität brauche es Zusammenarbeit, die allen dient. „Das Miteinander von Wissenschaft, Unternehmen und Start-ups sollten wir nochmal in den Blick nehmen“, betont die neue Wissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne). Erste Großprojekte dieser Art gibt es in BadenWürttemberg
– etwa für dem Bereich KI das Cyber Valley entlang der Achse Tübingen-Stuttgart, oder zum Thema Gesundheit der Innovationscampus im Rhein-Neckar-Raum. „Baden-Württemberg ist ein europäischer Hotspot, das Cyber Valley ist das Herzstück“, betont denn auch Kretschmann selbstbewusst.
Um vorne mit dabei zu sein, reicht das nicht, erklärt Udo Kaisers, Leitender Ärztlicher Direktor der Uniklinik in Ulm. Deutschland, gerade auch Baden-Württemberg, habe gute Wissenschaftler, gute Universitäten, aber daraus entstünden keine Produkte. „Das größte Problem ist, dass unsere besten Leute hierherkommen und dann schicken wir noch unser Geld hinterher“, sagt er in Los Angeles. Nirgends sonst auf der Welt gibt es so viel Wagniskapital wie in Kalifornien– und zugleich so viel Freiheit und Gründergeist. Es brauche Räume, in denen sich Start-ups ausprobieren können und auch scheitern dürften, wenn sie nach einer definierten Zeit keine Erfolge erzielen. Warum nicht in ehemaligen Krankenhäusern, wie dies Pittsburgh eingerichtet hat? Zudem brauche es Geld für diese Start-ups – nicht ein paar Hunderttausend, sondern ein paar Millionen Euro in einem Fonds. „Wir sind zu langsam“, sagt Kaisers. Hier müsse die Politik Hürden abbauen, sagt Kaisers Pendant vom Uniklinikum Freiburg, Frederik Wenz. „Wir müssen mit Unternehmen zusammenarbeiten können“, sagt er. „Wenn wir das nicht tun, findet die Wertschöpfung nicht bei uns statt.“Auch in der Gesundheitsbranche ist Künstliche Intelligenz das bestimmende Zukunftsthema. Eine Grundlage hierfür sind Daten. Wenz verweist darauf, dass Länder wie Finnland, Estland und Dänemark wie Deutschland an die Datenschutzgrundverordnung der EU gebunden sind – ihren Forschern aber in diesem Punkt viel mehr Spielraum böten. „Die bestrafen Datenmissbrauch, wir wollen Fort Knox bauen“, vergleicht Wenz.
Selbst wenn Patienten ihre Daten pseudonymisiert zu Forschungszwecken freigeben, dürfen diese bei uns laut Gesetz nur so genutzt werden, wie dies vorher vereinbart wurde. „Wenn wir 2020 die Berufe der Corona-Toten gewusst hätten, wären keine allgemeinen Lockdowns nötig gewesen“, sagt Wenz beispielhaft. Die Politik müsse handeln – die starren Regeln lockern und dem Bürger erklären, was passiert und warum dies allen diene. Kaisers verweist auf Bayern. Im Freistaat sei das Landeskrankenhausgesetz so geändert worden, dass klinisch erhobene Daten grundsätzlich genutzt werden können.
Auch wenn Kretschmann während der Reise von der Vorreiterrolle Baden-Württembergs in etlichen Bereichen schwärmt („In keine andere Region Europas fließt so viel EUFördergeld für Batteriezellfertigung“), betont er, dass gerade in den Schlüsselbranchen Gesundheit und Mobilität mehr passieren muss. „Am Ende landet man bei einer wahnsinnigen Bürokratie, bei absurden Arbeitsschutzgesetzen und Dokumentationspflichten“, schimpft jener Mann, der in Baden-Württemberg seit 2011 oberster Chef der ihm nachgeordneten Landesbürokratie ist.
Die Reise zeige: Nur wenn diese Hürden abgebaut werden, wenn deutsche Unternehmen mehr Wagniskapital in Start-ups stecken, wenn Hochschulen mehr Ausgründungen schaffen, wie er dies etwa aus Aalen und Karlsruhe kenne, und sich alle Akteure stärker vernetzten, bleibe Baden-Württemberg vorne mit dabei. „Wir müssen das mehr machen, sonst fallen wir im internationalen Wettbewerb hinten runter“, sagt Kretschmann. Dann wäre es vorbei mit den Superlativen zur Beschreibung von Baden-Württemberg.