Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Konstante in einem geschüttel­ten Land

Als Bundespräs­ident von Österreich war Alexander Van der Bellen in seiner ersten Amtszeit mit zahlreiche­n Krisen konfrontie­rt. Nun kandidiert er erneut.

- Von Patrick Guyton ●

GRAZ - Der Jakominipl­atz in Graz wirkt etwas herunterge­kommen, vor allem aber unübersich­tlich. Hier am Rande der Altstadt kreuzen sich ziemlich alle Straßenbah­nlinien der Steiermark-Metropole. Gerade und in Bögen verlaufen verschiede­nste Gleise, treffen in spitzen oder stumpfen Winkeln aufeinande­r. Die Passanten gehen schnurstra­cks über das Schienenge­wirr ohne Begrenzung­en oder Ampeln, das erscheint todesmutig.

An diesem Vormittag hat ein Unterstütz­ungsteam von Alexander Van der Bellen einen Stand auf dem Jakominipl­atz aufgebaut. Um 10.10 Uhr kommt der österreich­ische Bundespräs­ident unvermitte­lt höchstpers­önlich mit Entourage. Kaum einer hat es gewusst. Schnell bildet sich eine Menschentr­aube um ihn. Händeschüt­teln, wechselsei­tiges „Grüß Gott“und „alles Gute“.

In Österreich steht an diesem Sonntag die Wahl des Staatsober­haupts, des Bundespräs­identen an. Amtsinhabe­r Van der Bellen, 78 Jahre alt, Grüner mit ruhender Parteimitg­liedschaft, kandidiert nach 2016 zum zweiten und letzten Mal. Alles andere als eine Wiederwahl mit absoluter Mehrheit wäre eine große Überraschu­ng. Der schlanke grauhaarig­e Mann mit dem recht vornehmen und etwas behäbigen Auftreten scheint in den vergangene­n Jahren zur einzigen verlässlic­hen Konstante der österreich­ischen Politik geworden zu sein.

Eine Affäre jagt die andere in der Alpenrepub­lik – ein schier nicht entflechtb­ares Gewirr, wie die Gleise auf dem Jakominipl­atz. Es geht um Korruption, die Ibiza-Affäre ist noch lebhaft in Erinnerung, bald darauf schnellte ein junger konservati­ver Politiker namens Sebastian Kurz zum Shooting-Star empor und fiel dann ins Bodenlose. Van der Bellen aber – gemeinhin als „VDB“bezeichnet, Freunde nennen ihn Sascha – ist immer da als Repräsenta­nt eines, sagen wir, redlichen und ehrlichen Österreich­s.

Der Wahlkampf in der Alpenrepub­lik hält sich sehr in Grenzen, es gibt im Prinzip eineinvier­tel Kandidaten, auch wenn sieben auf dem Wahlzettel stehen. Neben Van der Bellen geht die rechtspopu­listische

FPÖ mit dem in seiner Partei als gemäßigt geltenden Walter Rosenkranz ins Rennen. Dieser gibt den biederen Traditions­österreich­er, der im Janker über die Volksfeste zieht und sagt: „Holen wir uns unser Österreich zurück!“Sollte Van der Bellen keine absolute Mehrheit erreichen, so treten bei einem zweiten Wahlgang die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen gegeneinan­der an.

Weiter kandidiere­n fünf Männer von der rechten und der linken Seite, Spaßkandid­aten. Am schillernd­sten ist der Mediziner und Musiker Dominik Wlazny alias „Marco Pogo“, der mit seiner „Bier-Partei“ganz generell Österreich und die Welt besser machen möchte und eine „Bierokrati­e“anstrebt.

Die beiden großen Volksparte­ien, die Österreich über Jahrzehnte hinweg geprägt haben, verzichten hingegen auf Kandidaten – die konservati­ve Österreich­ische Volksparte­i (ÖVP) und die sozialdemo­kratische SPÖ. Denn gegen „VDB“würde man nur eine Niederlage einfahren. Die ÖVP ist schwer erschütter­t von den Korruption­svorwürfen gegen ihren früheren Spitzenman­n Sebastian Kurz und in der Wählerguns­t abgestürzt.

Auch sind sich ÖVP und SPÖ einig, dass Van der Bellen keinen schlechten Job gemacht hat. SPÖParteis­precherin Elisabeth GarfiasMit­terhuber sagt der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Er hat sein Amt unabhängig, verantwort­ungsvoll und besonnen ausgeführt.“Der SPÖ-Vorsitzend­en Pamela Rendi-Wagner wären zwar gewisse Chancen eingeräumt worden. Diese macht sich aber eher Hoffnung, nach der nächsten Parlaments­wahl in spätestens zwei Jahren Kanzlerin zu werden.

Im Vergleich zum deutschen Bundespräs­identen hat der österreich­ische ein bisschen mehr zu sagen, aber nicht sehr viel. Dass er kein bloßes Abnick-Staatsober­haupt sein wird, stellte Van der Bellen schon zu Beginn 2016 klar. Er werde, so sagte er, nach Parlaments­wahlen nie einen FPÖ-Politiker beauftrage­n, sich eine Regierungs­mehrheit zu suchen. Das war eine Boykottans­age gegen die Gepflogenh­eit, der stärksten Partei den Regierungs­auftrag zu erteilen.

„So ist Österreich einfach nicht.“Dieser Satz bleibt der stärkste aus

Alexander Van der Bellens erster Amtszeit. Er sagte ihn in einer Ansprache, nachdem das Ibiza-Video im Mai 2019 veröffentl­icht worden war. Der FPÖ-Vizekanzle­r und Parteivors­itzende Heinz-Christian Strache war auf der Ferieninse­l in eine Falle getappt: Die angebliche Nichte eines russischen Oligarchen bot ihm bei einem feuchtfröh­lichen Treffen an, für die FPÖ über Strohmänne­r das größte Boulevardb­latt „KronenZeit­ung“zu kaufen sowie in die Bauindustr­ie einzusteig­en.

Strache war begeistert, das zeigte der Film überdeutli­ch. Van der Bellen sprach von „beschämend­en Bildern“und einer „dreisten Respektlos­igkeit“. Die FPÖ wurde aus der Koalition mit der ÖVP gefeuert, der Präsident hatte dies ganz entschiede­n forciert. Es kam zu Neuwahlen.

Alexander Van der Bellen ist das Kind eines deutschstä­mmigen Paares aus Estland, das 1941 aufgrund der Verfolgung durch die Sowjetunio­n emigrierte. Drei Jahre darauf wurde er in Wien geboren, Kindheit und Jugend verbrachte er im Tiroler Kaunertal. Später schlug er eine akademisch­e Laufbahn ein und erlangte eine Professur für Volkswirts­chaft in Wien. Van der Bellen arbeitete bei den Grünen mit, wurde deren Vorsitzend­er und stand lange Jahre an der Spitze der Fraktion im Parlament, dem Nationalra­t.

Er ist ein spröder Typ. Was man als volkstümli­ch bezeichnet, kann er nicht. Das sieht man beim Besuch in Graz. Geduldig schüttelt er die Hände der Menschen, die zufällig am Jakominipl­atz sind und auf ihn zukommen. „Ich wähle Sie“, sagt ein Mann, „Sie sind wichtig für Österreich“eine Frau. 100-, vielleicht 150-mal lässt er sich mit den Leuten von deren Handys fotografie­ren. Spaß macht ihm vor allem ein kleiner weißer Hund, mit dem er eine Weile spielt. Van der Bellen ist dafür bekannt, dass er mit seiner Hündin Juli in Wien regelmäßig spazieren geht.

„Größere Wahlkampfv­eranstaltu­ngen machen wir nicht“, sagt sein Sprecher Stephan Götz-Bruha der „Schwäbisch­en Zeitung“. Die Aktionen wie in Graz erfolgten recht spontan. Denn wenn Van der Bellen angekündig­t wird, so der Sprecher, „kommen 100 Nazis mit Trillerpfe­ifen, die das sprengen wollen“. Das gibt zu denken über die Verfassthe­it

dieses Landes. Diese Amtszeit war die turbulente­ste seit vielen Jahren für einen österreich­ischen Bundespräs­identen. Van der Bellens Vorgänger hatten sich eher in einer gepflegten Langeweile geübt. Er allerdings hatte die Minister und Mitglieder von insgesamt fünf Regierunge­n anzugelobe­n – so nennt man in Österreich die Vereidigun­g. Das waren, je nach Zählweise, 50 oder auch 125 Personen, die den langen roten Teppich in der Wiener Hofburg zum Präsidente­n beschritte­n und wieder verlassen haben. In seiner Amtszeit gab es Regierunge­n aus SPÖ und ÖVP, ÖVP

und FPÖ, ÖVP und Grünen unter Sebastian Kurz, eine Expertenre­gierung mit der Juristin Brigitte Bierlein als Kanzlerin sowie zweimal ÖVP und Grüne ohne Kurz.

Sebastian Kurz – der Name des jungen, forsch dreisten ÖVP-Stars, der sich in absolutist­ischer Manier seine Partei zum Untertanen machte, dürfte Van der Bellen noch lange im Ohr klingen. Kurz hatte eine Zeitung mit Anzeigen für gute und falsche Berichters­tattung bezahlt, hatte seine Partei und die Regierung ganz auf sich zugeschnit­ten. Durchaus mit dem Anspruch, so meinen manche Beobachter, eine Art von autoritäre­m Staat zu formen. Selbst der Parteiname wurde für den heute erst 36jährigen Ex-Kanzler geändert: Nicht die ÖVP trat mehr an, sondern „Sebastian Kurz – die neue Volksparte­i ÖVP“.

Aus dem Kurz-Desaster hat sich Van der Bellen rausgehalt­en. Kritische Nachfragen, etwa in einem Interview mit dem Österreich­ischen Rundfunk, bürstete er ab – die Staatsanwa­ltschaft ermittle ja, die Institutio­nen funktionie­rten. Das Land befinde sich nicht in einer Staatskris­e. Kommt Russland zur Sprache, sagt er: „Wir waren zu lange auf einem Auge blind.“Er verliert da nicht die Fassung, ist aber sichtlich schlecht gelaunt.

Van der Bellens Wahlkampf ist vor allem staatstrag­end und gegen radikale Kräfte gerichtet. „Vernunft statt Extreme“, lautet der Slogan auf einem Plakat. Oder: „Wer unsere Heimat liebt, spaltet sie nicht.“Und ganz einfach: „Aus ganzem Herzen Österreich.“Insgesamt erscheint das politische und gesellscha­ftliche Klima als ziemlich vergiftet. Hervorgeru­fen wurde das durch die Skandale von Strache und Kurz, aber auch durch Corona und die Folgen.

Das Anti-Corona-Lager war und ist mitunter größer und radikaler als in Deutschlan­d. In Wien hatten im Dezember vergangene­n Jahres 40 000 Menschen gegen den Lockdown und eine Impfpflich­t demonstrie­rt. Die österreich­ische Ärztin und Impf-Befürworte­rin Lisa-Maria Kellermayr hatte im Sommer Suizid begangen, nachdem sie Opfer einer Hasswelle im Internet geworden war.

Die FPÖ, vor allem ihr radikaler Parteichef Herbert Kickl, greift demokratis­che Institutio­nen an, indem sie etwa immer wieder gegen „das System“wettert. Helmut Brandstätt­er, ein früherer österreich­ischer Journalist und heutiger Abgeordnet­er der linksliber­alen Neos, nennt Österreich eine verstörte Republik, die der Heilung bedürfe.

In Graz kommt eine ganz kleine, ganz alte Frau auf Alexander Van der Bellen zu. Sie habe Probleme mit der Rente, sie verstehe das alles nicht. Er sagt: „Schreiben Sie mir das und schicken es mir.“„Ja, aber wohin denn?“„Einfach an den Bundespräs­identen, Hofburg, Wien. Sie bekommen garantiert eine Antwort.“

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 ?? FOTOS: ALEX HALADA/IMAGO / HANS KLAUS TECHT/DPA ?? Österreich­s Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen sucht – wie im August in Wien (Bild oben) – das Gespräch mit Wählern, hält sich im Wahlkampf ansonsten aber zurück. Die erste Amtszeit des Professors für Volkswirts­chaft war in der österreich­ischen Politik von Affären geprägt, nicht zuletzt um den ÖVP-Jungstar Sebastian Kurz. Zu ihm hielt Van der Bellen Abstand (Bild unten).
FOTOS: ALEX HALADA/IMAGO / HANS KLAUS TECHT/DPA Österreich­s Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen sucht – wie im August in Wien (Bild oben) – das Gespräch mit Wählern, hält sich im Wahlkampf ansonsten aber zurück. Die erste Amtszeit des Professors für Volkswirts­chaft war in der österreich­ischen Politik von Affären geprägt, nicht zuletzt um den ÖVP-Jungstar Sebastian Kurz. Zu ihm hielt Van der Bellen Abstand (Bild unten).

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