Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Nobelpreis für ein Symbol
Auszeichnung für Menschenrechtler in der Ukraine und Belarus sowie die Gruppe Memorial
- Die russische Agentur Interfax gab sich neutral: „Das norwegische Nobelpreiskomitee hat beschlossen, den Friedensnobelpreis dem russischen Memorial (vom Justizministerium auf die Liste der NGO-Auslandsagenten gesetzt und liquidiert) zu verleihen.“Mit anderen Worten: Der Friedensnobelpreis ging an eine russische Menschenrechtsorganisation, die der russische Staat verboten hat.
Auch die Auswahl der anderen beiden Preisträger dürfte das offizielle Moskau wenig freuen. Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki, zurzeit selbst in Haft, kämpft seit Jahrzehnten für die Befreiung politischer Gefangener und gegen Folter. Außer in Belarus sitzen auch in Russland Oppositionelle im Gefängnis, ist Folter an der Tagesordnung. Noch ärgerlicher ist die Auszeichnung des ukrainischen Zentrums für bürgerliche Freiheiten, laut Nobelpreiskomitee ausdrücklich auch dafür, dass seine Mitarbeiter russische Kriegsverbrechen in der Ukraine dokumentierten.
Berit Reiss-Andersen, die Vorsitzende des Komitees, bezeichnete Memorial und die beiden anderen Preisträger als „herausragende Vorkämpfer für Menschenrechte, Demokratie und friedliche Koexistenz“in den ostslawischen Staaten. Als Journalisten fragten, ob der Nobelpreis für die Menschenrechtsaktivisten ein Geburtstagsgeschenk an den gestern 70 Jahre alt gewordenen Wladimir Putin wäre, antwortete sie, die einzige Verbindung zu Putin sei, dass sowohl Belarus wie Russland autoritäre Regime seien.
Kremlsprecher Dmitri Peskow schwieg, der rechte Blogger Jegor Cholmogorow sprach von den Preisträgern als „ukrainischen Nationalisten, belarussischen Nationalen und Krötennationalisten in Russland“. Die Zeitung „Kommersant“erinnerte daran, es hätte auch „viel weniger elegante Entscheidungen“geben können, namentlich den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als Preisträger.
„Der Preis gilt nicht nur Memorial, sondern allen russischen Menschenrechtlern und der gesamten Zivilgesellschaft, die für Bürgerrechte, Demokratie in Russland und jetzt vor allem für Frieden eintritt“, sagte Sergei Dawidis, Mitvorsitzender des Rates des Menschenrechtszentrums Memorial, der Schwäbischen Zeitung. „Man hat uns als Symbol, als Repräsentanten dieses Teils der russischen Gesellschaft ausgewählt, wohl auch weil wir dieses Jahr gesetzwidrig liquidiert worden sind.“Es sei jetzt sehr wichtig zu zeigen, dass Russland nicht gleich Putin sei und dass wesentliche gesellschaftliche Kräfte alles versuchten, um sich Aggression und Menschenrechtsverletzungen
entgegenzustellen. Die 1989 gegründete Bewegung Memorial widmete sich gleichzeitig der Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, vor allem der Verbrechen unter Stalin, parallel verteidigte sie die Menschenrechte konkreter Zeitgenossen. Beides führte in Putins Russlands immer häufiger zu Konflikten mit der Staatsmacht, der Memorialhistoriker Juri Dmitrijew wurde Ende 2021 als angeblicher Kinderschänder zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt, kurz darauf liquidierte das oberste Gericht die Organisation. Begründung: Memorial, 2016 zum „ausländischen Agent“erklärt, habe
es vielfach versäumt, sich in seinen Publikationen als solcher zu markieren, außerdem die Historie der Sowjetunion entstellt.
Danach emigrierte ein Teil der Organisation, vor allem die Mitarbeiter, die wie Dawidis öffentlich politische Gefangene unterstützten. Aber viele Juristen, die einfachen Bürgern helfen, und die lokalen Geschichtsvereine bleiben in Russland aktiv, bisher wurde lediglich der Memorial-Regionalverband in Perm verboten. „Unwichtig, in welcher juristischen Form, Memorial lebt als gesellschaftliche Initiative weiter“, sagt Dawidis. Und es werde weiter Menschen
geben, die bereit seien, sich für ihre Ziele zu engagieren.
Vergangenes Jahr gehörte ebenfalls ein Russe, Dmitri Muratow, Chefredakteur der liberalen Nowaja Gaseta, zu den Preisträgern. Aber seine Zeitung musste Anfang März schließen, weil verschärfte Zensurgesetze nach dem Beginn von Putins „Kriegsspezialoperation“objektive Berichterstattung unmöglich gemacht hatten. Auch die Repressalien gegen Memorial gehen weiter. Ein Moskauer Gericht verhandelte gestern den Antrag der Staatsanwaltschaft, das Hauptquartier von Memorial zu beschlagnahmen.