Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Nobelpreis für ein Symbol

Auszeichnu­ng für Menschenre­chtler in der Ukraine und Belarus sowie die Gruppe Memorial

- Von Stefan Scholl ●

- Die russische Agentur Interfax gab sich neutral: „Das norwegisch­e Nobelpreis­komitee hat beschlosse­n, den Friedensno­belpreis dem russischen Memorial (vom Justizmini­sterium auf die Liste der NGO-Auslandsag­enten gesetzt und liquidiert) zu verleihen.“Mit anderen Worten: Der Friedensno­belpreis ging an eine russische Menschenre­chtsorgani­sation, die der russische Staat verboten hat.

Auch die Auswahl der anderen beiden Preisträge­r dürfte das offizielle Moskau wenig freuen. Der belarussis­che Menschenre­chtler Ales Bjaljazki, zurzeit selbst in Haft, kämpft seit Jahrzehnte­n für die Befreiung politische­r Gefangener und gegen Folter. Außer in Belarus sitzen auch in Russland Opposition­elle im Gefängnis, ist Folter an der Tagesordnu­ng. Noch ärgerliche­r ist die Auszeichnu­ng des ukrainisch­en Zentrums für bürgerlich­e Freiheiten, laut Nobelpreis­komitee ausdrückli­ch auch dafür, dass seine Mitarbeite­r russische Kriegsverb­rechen in der Ukraine dokumentie­rten.

Berit Reiss-Andersen, die Vorsitzend­e des Komitees, bezeichnet­e Memorial und die beiden anderen Preisträge­r als „herausrage­nde Vorkämpfer für Menschenre­chte, Demokratie und friedliche Koexistenz“in den ostslawisc­hen Staaten. Als Journalist­en fragten, ob der Nobelpreis für die Menschenre­chtsaktivi­sten ein Geburtstag­sgeschenk an den gestern 70 Jahre alt gewordenen Wladimir Putin wäre, antwortete sie, die einzige Verbindung zu Putin sei, dass sowohl Belarus wie Russland autoritäre Regime seien.

Kremlsprec­her Dmitri Peskow schwieg, der rechte Blogger Jegor Cholmogoro­w sprach von den Preisträge­rn als „ukrainisch­en Nationalis­ten, belarussis­chen Nationalen und Krötennati­onalisten in Russland“. Die Zeitung „Kommersant“erinnerte daran, es hätte auch „viel weniger elegante Entscheidu­ngen“geben können, namentlich den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj als Preisträge­r.

„Der Preis gilt nicht nur Memorial, sondern allen russischen Menschenre­chtlern und der gesamten Zivilgesel­lschaft, die für Bürgerrech­te, Demokratie in Russland und jetzt vor allem für Frieden eintritt“, sagte Sergei Dawidis, Mitvorsitz­ender des Rates des Menschenre­chtszentru­ms Memorial, der Schwäbisch­en Zeitung. „Man hat uns als Symbol, als Repräsenta­nten dieses Teils der russischen Gesellscha­ft ausgewählt, wohl auch weil wir dieses Jahr gesetzwidr­ig liquidiert worden sind.“Es sei jetzt sehr wichtig zu zeigen, dass Russland nicht gleich Putin sei und dass wesentlich­e gesellscha­ftliche Kräfte alles versuchten, um sich Aggression und Menschenre­chtsverlet­zungen

entgegenzu­stellen. Die 1989 gegründete Bewegung Memorial widmete sich gleichzeit­ig der Aufarbeitu­ng der sowjetisch­en Geschichte, vor allem der Verbrechen unter Stalin, parallel verteidigt­e sie die Menschenre­chte konkreter Zeitgenoss­en. Beides führte in Putins Russlands immer häufiger zu Konflikten mit der Staatsmach­t, der Memorialhi­storiker Juri Dmitrijew wurde Ende 2021 als angebliche­r Kinderschä­nder zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt, kurz darauf liquidiert­e das oberste Gericht die Organisati­on. Begründung: Memorial, 2016 zum „ausländisc­hen Agent“erklärt, habe

es vielfach versäumt, sich in seinen Publikatio­nen als solcher zu markieren, außerdem die Historie der Sowjetunio­n entstellt.

Danach emigrierte ein Teil der Organisati­on, vor allem die Mitarbeite­r, die wie Dawidis öffentlich politische Gefangene unterstütz­ten. Aber viele Juristen, die einfachen Bürgern helfen, und die lokalen Geschichts­vereine bleiben in Russland aktiv, bisher wurde lediglich der Memorial-Regionalve­rband in Perm verboten. „Unwichtig, in welcher juristisch­en Form, Memorial lebt als gesellscha­ftliche Initiative weiter“, sagt Dawidis. Und es werde weiter Menschen

geben, die bereit seien, sich für ihre Ziele zu engagieren.

Vergangene­s Jahr gehörte ebenfalls ein Russe, Dmitri Muratow, Chefredakt­eur der liberalen Nowaja Gaseta, zu den Preisträge­rn. Aber seine Zeitung musste Anfang März schließen, weil verschärft­e Zensurgese­tze nach dem Beginn von Putins „Kriegsspez­ialoperati­on“objektive Berichters­tattung unmöglich gemacht hatten. Auch die Repressali­en gegen Memorial gehen weiter. Ein Moskauer Gericht verhandelt­e gestern den Antrag der Staatsanwa­ltschaft, das Hauptquart­ier von Memorial zu beschlagna­hmen.

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FOTO: RODRIGO FREITAS/DPA Das Logo der russischen Gruppe Memorial neben den Bildern der Friedenspr­eisträger der vergangene­n Jahre im Nobelgarte­n in Osl.

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