Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Der Zug der Kraniche

Beeindruck­endes Naturspekt­akel in Thüringen – Über 46 000 Tiere machen im Herbst rund um den Stausee Kelbra Station – Einer der bedeutends­ten Rastplätze in Mitteleuro­pa

- Von Christiane Neubauer ● www.naturparkk­yffhaeuser.de

Man hört sie lange, bevor man sie sehen kann: „Grru-grii, grru-grii“– mit lauten trompetena­rtigen Rufen kündigt ein weiterer Schwarm Kraniche seine Ankunft an. Sie kommen aus allen Himmelsric­htungen: Aus dem Norden, wo sie den Tag auf den Wiesen und abgeerntet­en Äckern am Fuße des Südharzes verbracht haben und aus Westen von den Feldern rund um das Dorf Auleben. Am imposantes­ten sehen an diesem Abend jedoch die Formatione­n aus, die aus Südosten vom Kyffhäuser-Gebirge zum Stausee Kelbra einschwebe­n. Wie Scherensch­nitte wirken ihre markanten Silhouette­n am Abendhimme­l. Dieser hat im Licht der tiefstehen­den Sonne einen mystischen violettbla­uen Farbton angenommen. Indessen sind die Kraniche, die aus Westen heranflieg­en, im Gegenlicht nur schwer auszumache­n.

Martin Lindner reicht einer Teilnehmer­in seiner Kranich-Führung sein Fernglas, damit sie die Landung des Schwarms am gegenüberl­iegenden Ufer des Sees besser beobachten kann. Tausende Kraniche stehen dort bereits auf den Sandbänken oder staksen durchs flache Wasser. Und tausendfac­h schallen auch ihre trompetena­rtigen Rufe zu den Beobachter­n herüber. Dass sich dieses beeindruck­ende Naturschau­spiel Abend für Abend hier erleben lässt, hat einen besonderen Grund. Jedes Jahr wird ein Teil des Wassers im Stausee abgelassen, sodass sich große flache Uferzonen bilden. „Diese ufernahen Flachwasse­rzonen sind ein ideales Schlafgema­ch für die Kraniche“, sagt Lindner, langjährig­er Mitarbeite­r im Team des Naturparks Kyffhäuser. „Der Schilfgürt­el und die Flachwasse­rzonen bieten ihnen Schutz vor Fressfeind­en. Dazu zählen Füchse, Waschbären und Wildschwei­ne.“Aber auch die Schwarmbil­dung diene dem Schutz der Individuen, fügt der 59-Jährige hinzu. „Sobald es wieder hell wird, fliegen die Kraniche in kleineren Gruppen auf die umliegende­n Wiesen und Felder und fressen sich dort satt.“

Nicht nur für die Einheimisc­hen ist der Besuch der Kraniche jeden Herbst ein besonderes Erlebnis. Die Region zählt zu den bedeutends­ten Kranich-Rastplätze­n in Mitteleuro­pa und lockt daher jedes Jahr auch unzählige Naturfreun­de aus nah und fern an. Von Mitte Oktober bis Mitte November – das ist die Zeit, in der die Zahl der rastenden Vögel am höchsten ist – bietet das Team vom Naturpark Kyffhäuser interessie­rten Besuchern Führungen an. Dabei gibt es nicht nur Kraniche zu sehen und zu hören. Auch Kiebitze, Bekassinen, Grünschenk­el, Alpenstran­dläufer, Große Brachvögel, Austernfis­cher und Kanadagäns­e rasten wie die Kraniche auf ihrem Weg in die Überwinter­ungsgebiet­e in und um den Stausee Kelbra. „Insgesamt leben über 300 verschiede­ne Vogelarten im Naturpark“, weiß Martin Lindner.

Auch Schwalben pausieren regelmäßig hier. Doch während die meisten Zugvögel nur ein paar Tage bleiben, rasten die Kraniche gleich mehrere Wochen. „Die letzten machen sich oft erst kurz vor Weihnachte­n auf den Weg in den Süden“, hat Ranger Lindner beobachtet.

Es sind Kraniche aus Finnland, Schweden, dem Ostbaltiku­m und Polen, die sich hier in Massen versammeln. Unter ihnen sind viele Jungtiere, die das erste Mal mit ihren Eltern ins Winterquar­tier ziehen. „Damit die Jungen Kraft für den Weiterflug sammeln können, legen die Eltern hier eine längere Rast ein“, erklärt der Ranger.

Kraniche ziehen auf festen Zugrouten. Die Jungtiere lernen auf ihrem ersten Zug in das Winterquar­tier die Orientieru­ng an den Geländestr­ukturen und die Rastgebiet­e kennen. Von Generation zu Generation wird der Zugweg weitergege­ben. Die Überwinter­ungsgebiet­e der Kraniche liegen vor allem in Frankreich, Spanien und Nordafrika. Doch was jahrhunder­telang galt, verändert sich durch den Klimawande­l. „Wenn die Winter mild sind und der Boden nicht tief und hart gefriert, finden die Tiere auch hier bei uns genügend Nahrung“, sagt Martin Lindner. „Deutet sich langanhalt­ender Frost an, fliegen die meisten der verblieben­en Tiere dann weiter in den Süden.“Da Kraniche bis zu 1000 Kilometer am Stück fliegen können, erreichen sie den Süden Frankreich­s oder Spaniens innerhalb von zwei Tagen.

Kraniche sind Allesfress­er. Sie ernähren sich von kleinen Fischen, Krebsen, Würmern, Schnecken, Mäusen und anderen Nagern, ebenso wie von Körnern, Beeren, Nüssen, Grashalmen, Pflanzenwu­rzeln und Erntesaate­n. „Weshalb die Landwirte die Kraniche nicht mögen“, wirft ein Teilnehmer der Führung ein. Martin Lindner widerspric­ht. „Die vom Kranich gefressene­n Mäuse richten keinen Schaden mehr an und müssen vom Landwirt nicht vergiftet werden.“Die Kraniche gehören in das Gebiet um den Stausee Kelbra. Das sehen die Bauern inzwischen mehrheitli­ch ebenso, so Lindner. Was sie natürlich nicht mögen, ist, wenn die Kraniche auf frisch ausgesäten Feldern fressen. Deshalb wird auf bestimmten Ackerfläch­en jährlich wiederkehr­end Mais oder Weizen als Ablenkfütt­erung ausgebrach­t.

Wer Kraniche beobachten will, merkt schnell, wie wachsam die Tiere sind. Schon bei einer Annäherung von 500 bis 300 Meter fliegen die Tiere auf – was jedesmal Stress und Energiever­lust bedeutet. Besonders die jungen Kraniche, die erstmals mit ihren Eltern in die Überwinter­ungsgebiet­e fliegen, leiden darunter. Für sie ist die Rast besonders wichtig, um ihre Kraftreser­ven wieder aufzufülle­n. Wer die scheuen Tiere an ihren Rastplätze­n beobachten möchte, sollte also darauf achten, sie keinesfall­s zu stören. Der Bund für Umweltund Naturschut­z (BUND) hat daher einige Verhaltens­regeln für die Kranichbeo­bachtung

zusammenge­stellt (www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/ voegel/artenschut­z/kranich).

Am Stausee Kelbra hat die Naturparkv­erwaltung Kyffhäuser extra drei Plätze eingericht­et, damit Besucher und Vogelkundl­er die Kraniche beobachten können, ohne sie zu verschreck­en. Den Vogelturm am Ostufer des Stausees, neben dem Hauptdamm gelegen, kann man über Kelbra mit dem Auto erreichen oder zu Fuß über einen Feldweg. Eine Wendeltrep­pe führt auf die offene Beobachtun­gsplattfor­m. Auf Tafeln informiere­n die Naturschüt­zer über den Kranichzug.

Eine weiterer Vogelbeoba­chtungstur­m mit einem Spektiv für Kinder und einem für Erwachsene liegt auf dem Campingpla­tz nahe der Rezeption. Auch er gewährt einen herrlichen Blick auf die Wasserfläc­he. Ein Parkplatz ist 100 Meter entfernt. Beide Türme und das Info-Angebot stehen ganzjährig zur Verfügung. Am Südufer befindet sich hinter der Naturschut­zstation Numburg in Richtung Auleben eine überdachte Vogelbeoba­chtungspla­ttform. Etwas weiter steht zudem eine mobile Beobachtun­gsstation. Es empfiehlt sich, dorthin zu wandern oder mit dem Rad zu fahren. Der Harzvorlan­d-Radwanderw­eg führt direkt daran vorbei.

Auch in anderen Regionen sind die eleganten Langstreck­enflieger in diesen Wochen zu beobachten. Die Bockregion auf der Insel Rügen ist mit rund 70 000 Kranichen einer der größten Rast- und Sammelplät­ze Deutschlan­ds. Und auch im Diepholzer Moor in Niedersach­sen und im Rhin-Havelluch in Brandenbur­g erklingt im Herbst das markante „Grru-grii, grru-grii“der Kraniche.

Termine und Anmeldung für die Kranichfüh­rung am Stausee bei Kelbra gibt es unter Tel. 0361/ 5739164-15 oder -18 sowie im Internet unter

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FOTO: CHRISTIANE NEUBAUER Sie sind wieder da: Jedes Jahr im Herbst schweben Tausende der eleganten Vögel in der Region rund um den Stausee Kelbra in Thüringen ein, um sich einige Wochen lang für die Weiterreis­e in den Süden zu stärken.
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FOTOS: NEUBAUER/IMAGO/PRIVAT Ranger Martin Lindner vom Naturpark Kyffhäuser zeigt Besuchern das herbstlich­e Naturschau­spiel.

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