Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der Zug der Kraniche
Beeindruckendes Naturspektakel in Thüringen – Über 46 000 Tiere machen im Herbst rund um den Stausee Kelbra Station – Einer der bedeutendsten Rastplätze in Mitteleuropa
Man hört sie lange, bevor man sie sehen kann: „Grru-grii, grru-grii“– mit lauten trompetenartigen Rufen kündigt ein weiterer Schwarm Kraniche seine Ankunft an. Sie kommen aus allen Himmelsrichtungen: Aus dem Norden, wo sie den Tag auf den Wiesen und abgeernteten Äckern am Fuße des Südharzes verbracht haben und aus Westen von den Feldern rund um das Dorf Auleben. Am imposantesten sehen an diesem Abend jedoch die Formationen aus, die aus Südosten vom Kyffhäuser-Gebirge zum Stausee Kelbra einschweben. Wie Scherenschnitte wirken ihre markanten Silhouetten am Abendhimmel. Dieser hat im Licht der tiefstehenden Sonne einen mystischen violettblauen Farbton angenommen. Indessen sind die Kraniche, die aus Westen heranfliegen, im Gegenlicht nur schwer auszumachen.
Martin Lindner reicht einer Teilnehmerin seiner Kranich-Führung sein Fernglas, damit sie die Landung des Schwarms am gegenüberliegenden Ufer des Sees besser beobachten kann. Tausende Kraniche stehen dort bereits auf den Sandbänken oder staksen durchs flache Wasser. Und tausendfach schallen auch ihre trompetenartigen Rufe zu den Beobachtern herüber. Dass sich dieses beeindruckende Naturschauspiel Abend für Abend hier erleben lässt, hat einen besonderen Grund. Jedes Jahr wird ein Teil des Wassers im Stausee abgelassen, sodass sich große flache Uferzonen bilden. „Diese ufernahen Flachwasserzonen sind ein ideales Schlafgemach für die Kraniche“, sagt Lindner, langjähriger Mitarbeiter im Team des Naturparks Kyffhäuser. „Der Schilfgürtel und die Flachwasserzonen bieten ihnen Schutz vor Fressfeinden. Dazu zählen Füchse, Waschbären und Wildschweine.“Aber auch die Schwarmbildung diene dem Schutz der Individuen, fügt der 59-Jährige hinzu. „Sobald es wieder hell wird, fliegen die Kraniche in kleineren Gruppen auf die umliegenden Wiesen und Felder und fressen sich dort satt.“
Nicht nur für die Einheimischen ist der Besuch der Kraniche jeden Herbst ein besonderes Erlebnis. Die Region zählt zu den bedeutendsten Kranich-Rastplätzen in Mitteleuropa und lockt daher jedes Jahr auch unzählige Naturfreunde aus nah und fern an. Von Mitte Oktober bis Mitte November – das ist die Zeit, in der die Zahl der rastenden Vögel am höchsten ist – bietet das Team vom Naturpark Kyffhäuser interessierten Besuchern Führungen an. Dabei gibt es nicht nur Kraniche zu sehen und zu hören. Auch Kiebitze, Bekassinen, Grünschenkel, Alpenstrandläufer, Große Brachvögel, Austernfischer und Kanadagänse rasten wie die Kraniche auf ihrem Weg in die Überwinterungsgebiete in und um den Stausee Kelbra. „Insgesamt leben über 300 verschiedene Vogelarten im Naturpark“, weiß Martin Lindner.
Auch Schwalben pausieren regelmäßig hier. Doch während die meisten Zugvögel nur ein paar Tage bleiben, rasten die Kraniche gleich mehrere Wochen. „Die letzten machen sich oft erst kurz vor Weihnachten auf den Weg in den Süden“, hat Ranger Lindner beobachtet.
Es sind Kraniche aus Finnland, Schweden, dem Ostbaltikum und Polen, die sich hier in Massen versammeln. Unter ihnen sind viele Jungtiere, die das erste Mal mit ihren Eltern ins Winterquartier ziehen. „Damit die Jungen Kraft für den Weiterflug sammeln können, legen die Eltern hier eine längere Rast ein“, erklärt der Ranger.
Kraniche ziehen auf festen Zugrouten. Die Jungtiere lernen auf ihrem ersten Zug in das Winterquartier die Orientierung an den Geländestrukturen und die Rastgebiete kennen. Von Generation zu Generation wird der Zugweg weitergegeben. Die Überwinterungsgebiete der Kraniche liegen vor allem in Frankreich, Spanien und Nordafrika. Doch was jahrhundertelang galt, verändert sich durch den Klimawandel. „Wenn die Winter mild sind und der Boden nicht tief und hart gefriert, finden die Tiere auch hier bei uns genügend Nahrung“, sagt Martin Lindner. „Deutet sich langanhaltender Frost an, fliegen die meisten der verbliebenen Tiere dann weiter in den Süden.“Da Kraniche bis zu 1000 Kilometer am Stück fliegen können, erreichen sie den Süden Frankreichs oder Spaniens innerhalb von zwei Tagen.
Kraniche sind Allesfresser. Sie ernähren sich von kleinen Fischen, Krebsen, Würmern, Schnecken, Mäusen und anderen Nagern, ebenso wie von Körnern, Beeren, Nüssen, Grashalmen, Pflanzenwurzeln und Erntesaaten. „Weshalb die Landwirte die Kraniche nicht mögen“, wirft ein Teilnehmer der Führung ein. Martin Lindner widerspricht. „Die vom Kranich gefressenen Mäuse richten keinen Schaden mehr an und müssen vom Landwirt nicht vergiftet werden.“Die Kraniche gehören in das Gebiet um den Stausee Kelbra. Das sehen die Bauern inzwischen mehrheitlich ebenso, so Lindner. Was sie natürlich nicht mögen, ist, wenn die Kraniche auf frisch ausgesäten Feldern fressen. Deshalb wird auf bestimmten Ackerflächen jährlich wiederkehrend Mais oder Weizen als Ablenkfütterung ausgebracht.
Wer Kraniche beobachten will, merkt schnell, wie wachsam die Tiere sind. Schon bei einer Annäherung von 500 bis 300 Meter fliegen die Tiere auf – was jedesmal Stress und Energieverlust bedeutet. Besonders die jungen Kraniche, die erstmals mit ihren Eltern in die Überwinterungsgebiete fliegen, leiden darunter. Für sie ist die Rast besonders wichtig, um ihre Kraftreserven wieder aufzufüllen. Wer die scheuen Tiere an ihren Rastplätzen beobachten möchte, sollte also darauf achten, sie keinesfalls zu stören. Der Bund für Umweltund Naturschutz (BUND) hat daher einige Verhaltensregeln für die Kranichbeobachtung
zusammengestellt (www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/ voegel/artenschutz/kranich).
Am Stausee Kelbra hat die Naturparkverwaltung Kyffhäuser extra drei Plätze eingerichtet, damit Besucher und Vogelkundler die Kraniche beobachten können, ohne sie zu verschrecken. Den Vogelturm am Ostufer des Stausees, neben dem Hauptdamm gelegen, kann man über Kelbra mit dem Auto erreichen oder zu Fuß über einen Feldweg. Eine Wendeltreppe führt auf die offene Beobachtungsplattform. Auf Tafeln informieren die Naturschützer über den Kranichzug.
Eine weiterer Vogelbeobachtungsturm mit einem Spektiv für Kinder und einem für Erwachsene liegt auf dem Campingplatz nahe der Rezeption. Auch er gewährt einen herrlichen Blick auf die Wasserfläche. Ein Parkplatz ist 100 Meter entfernt. Beide Türme und das Info-Angebot stehen ganzjährig zur Verfügung. Am Südufer befindet sich hinter der Naturschutzstation Numburg in Richtung Auleben eine überdachte Vogelbeobachtungsplattform. Etwas weiter steht zudem eine mobile Beobachtungsstation. Es empfiehlt sich, dorthin zu wandern oder mit dem Rad zu fahren. Der Harzvorland-Radwanderweg führt direkt daran vorbei.
Auch in anderen Regionen sind die eleganten Langstreckenflieger in diesen Wochen zu beobachten. Die Bockregion auf der Insel Rügen ist mit rund 70 000 Kranichen einer der größten Rast- und Sammelplätze Deutschlands. Und auch im Diepholzer Moor in Niedersachsen und im Rhin-Havelluch in Brandenburg erklingt im Herbst das markante „Grru-grii, grru-grii“der Kraniche.
Termine und Anmeldung für die Kranichführung am Stausee bei Kelbra gibt es unter Tel. 0361/ 5739164-15 oder -18 sowie im Internet unter