Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Atomanlage­n zu Freizeitpa­rks

Deutschlan­d verabschie­det sich von Strom aus Kernenergi­e – Die letzten Anlagen gehen Mitte April vom Netz

- Von Björn Hartmann

- Am 15. April endet in Deutschlan­d die Atom-Ära. Dann sollen die letzten drei Kraftwerke abgeschalt­et werden. Vom ersten Atomminist­er über die Straßensch­lachten am AKW Brokorf und der geplanten Wiederaufa­rbeitungsa­nlage Wackersdor­f bis zum Aus für die jetzt ungeliebte­n Anlagen dauerte es 68 Jahre.

Wann begann das Atomzeital­ter in der Bundesrepu­blik?

Unter Kanzler Konrad Adenauer (CDU) begann die Bundesrepu­blik 1955, Reaktoren für den zivilen Gebrauch zu erforschen und zu entwickeln. Adenauer schuf ein Ministeriu­m für Atomfragen. Erster Atomminist­er wurde FranzJosef Strauß. Der CSU-Politiker entwickelt­e einen Plan für das deutsche Atomprogra­mm.

Wann ist endgültig Schluss?

Das deutsche Atomgesetz sieht vor, dass die letzten drei noch laufenden Atomkraftw­erke bis zum 15. April abgeschalt­et werden müssen. Sehr viel länger reichen auch die Brenneleme­nte an den Standorten Emsland (Niedersach­sen), Neckarwest­heim 2 (BadenWürtt­emberg) und Isar 2 (Bayern) nicht. Die Betreiberg­esellschaf­ten Eon, RWE und EnBW haben sich längst von der Atomenergi­e verabschie­det, setzen auf erneuerbar­e Energien, Handel, Netze.

Warum werden die Kraftwerke abgeschalt­et?

Nach den Protesten gegen die Atomkraft und vor allem nach dem Atomunfall in Tschernoby­l 1986 wandelte sich die Stimmung in Deutschlan­d. In Tschernoby­l, damals in der Sowjetunio­n, explodiert­e der Reaktorblo­ck 4, zehn Tage lang wurde Radioaktiv­ität freigesetz­t, verteilte sich über die Nordhalbku­gel. Es gab Verbote, bestimmte Lebensmitt­el wie Pilze zu essen, in denen sich Radioaktiv­ität sammelte. Große Flächen im Norden der heutigen Ukraine wurden unbewohnba­r.

Bis zum Atomaussti­eg dauerte es dennoch. Die rot-grüne Bundesregi­erung unter Gerhard Schröder (SPD) beschloss ihn 2002. Acht Jahre später stoppte die CDU-FDP-Regierung unter Angela Merkel (CDU) den Ausstieg. 2011, nach dem schweren Reaktorung­lück im japanische­n Atomkraftw­erk Fukushima in Folge eines Tsunamis, beschloss die schwarz-rote Bundesregi­erung unter Merkel das endgültige Aus bis Ende 2022.

Aus Angst vor einer Energiekri­se in Deutschlan­d als Folge des Ukraine-Kriegs verlängert­e die Koalition aus SPD, Grünen und FDP unter Olaf Scholz (SPD) die Laufzeit einmalig bis zum 15. April 2023.

Wann startete die erste AtomAnlage?

Der erste funktionsf­ähige Reaktor in Deutschlan­d startete am 31. Oktober 1957 an der Technische­n Universitä­t München. Die wegen ihrer Form Atom-Ei genannte Forschungs­anlage hatte eine Leistung von vier Megawatt und wurde bis Juli 2000 genutzt. Sie wird derzeit abgerissen. Erste Versuche, einen Reaktor zu bauen, gab es bereits Anfang der 40erJahre. Die Anlagen konnten aber keine sich erhaltende Kettenreak­tion auslösen und somit keinen Strom erzeugen. Den ersten Strom aus Kernenergi­e speiste die Versuchsan­lage Kahl am Main im nordwestli­chsten Zipfel Bayerns 1962 ins deutsche Netz ein. Als letztes startete am 1. November 1989 Neckarwest­heim 2.

Wie viele Anlagen waren in Betrieb?

Der World Nuclear Industry Report listet insgesamt 36 Reaktorblö­cke in Deutschlan­d auf, wobei allein Greifswald an der Ostsee, dem wichtigste­n AKW-Standort der DDR, fünf standen. Bei sechs weiteren begann der Bau, sie gingen aber nie ans Netz, darunter drei in Greifswald, zwei in Stendal (Mecklenbur­g-Vorpommern) und der Schnelle Brüter in Kalkar am Niederrhei­n. 18 weitere Kraftwerks­blöcke wurden geplant, aber nie gebaut. Am längsten liefen die AKW Biblis A und Obrigheim (Baden-Württember­g), Grundrem

mingen C (Bayern) sowie Grohnde in Niedersach­sen mit je 37 Jahren. Die wenigste Zeit lief Greifswald 5: 23 Tage im November 1989.

Wie viel Strom haben die deutschen AKW erzeugt?

Hochzeit der Atomenergi­e waren die 1990er- und 2000er-Jahre. 1997 war ein Rekordjahr: Die Kraftwerke lieferten 30,8 Prozent des Stroms in Deutschlan­d. 2022 waren es noch 6,5 Prozent.

Wie rund liefen die Anlagen?

Der erste Störfall der deutschen Atomgeschi­chte ereignete sich offenbar 1942 in Leipzig, als sich während eines Versuchs Wasserstof­f bildete und explodiert­e. Seit AKW in Deutschlan­d Strom erzeugen, gab es Pannen. Insgesamt fast 6600 meldepflic­htige Störfälle verzeichne­t das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (Base).

Am anfälligst­en war der Thorium-Hochtemper­aturreakto­r in Hamm-Uentrop (NordrheinW­estfalen). In fünf Jahren gab es 125 Störfälle. Die wohl größte Panne war eine Wasserstof­fexplosion im AKW Brunsbütte­l 1991. Der Betrieb der deutschen Anlagen galt aber grundsätzl­ich als sehr sicher. Große Mengen radioaktiv­er Strahlung wurden nicht freigesetz­t.

Wie viel Atommüll muss gelagert werden?

Das Base geht von rund 27.000 Kubikmeter­n Kernbrenns­toffen aus, die entsorgt werden müssen, wenn die letzten AKW abgeschalt­et sind. Derzeit wird der stark strahlende Atommüll in Spezialbeh­ältern an 16 Orten zwischenge­lagert, meist direkt auf dem Gelände ehemaliger Atomkraftw­erke. Ein Endlager ist noch nicht gefunden. Das Verfahren läuft. Zuletzt hieß es, ein Standort werde wohl 2068 festgelegt. Schwach und mittelradi­oaktives Material, etwa vom Rückbau der Atomkraftw­erke, wird zum Teil im Schacht Konrad in Niedersach­sen gelagert werden.

Warum sind vor allem die Grünen Gegner der Atomkraft?

Eine wichtige Wurzel der Partei – zumindest im Westen – geht auf den Widerstand gegen den Bau eines Atomkraftw­erks in Wyhl am Kaiserstuh­l in Baden-Württember­g Mitte der 1970er-Jahre sowie den Protest gegen das Atommüllen­dlager Gorleben in Niedersach­sen zurück. Unter anderem aus diesen Bürgerinit­iativen entwickelt­e sich die Partei, die 1980 in Karlsruhe offiziell gegründet wurde.

Wie viele Anlagen wurden inzwischen abgerissen?

Die meisten abgeschalt­eten AKW werden inzwischen zurückgeba­ut. Besonders spektakulä­r: 2020 wurden die Kühltürme der Kraftwerke Philippsbu­rg 1 und 2

südlich Mannheims gesprengt. Sie waren jahrzehnte­lang Landmarken im flachen Rheintal. Vier Anlagen stehen noch vor dem Abriss, drei sind vollständi­g beseitigt. Eine Kuriosität ist das Schiff Otto Hahn, benannt nach dem Entdecker der Kernspaltu­ng. Es war von 1968 an unter deutscher Flagge mit Atomantrie­b unterwegs. Der wirtschaft­liche Durchbruch des Antriebs blieb aus, unter anderem wegen Sicherheit­sbedenken in Häfen. 1979 wurde der Reaktor ausgebaut, das Schiff verkauft. Es wurde 2009 verschrott­et.

Wann werden die letzten Atommeiler verschwund­en sein?

Der Rückbau dauert, weil ein Atomkraftw­erk wegen der Strahlung im Inneren nicht einfach abgerissen werden kann. Für große Anlagen sind teilweise mehr als 20 Jahre angesetzt. Im Idealfall sieht es hinterher so aus wie in Kahl. Eine Gedenkturb­ine vor grüner Wiese erinnert an das erste deutsche AKW, das Strom einspeiste. So soll es an anderen Standorten später auch einmal aussehen.

Manche Gebäude lassen sich nach dem Rückbau auch weiter nutzen, etwa als Technologi­epark. Eine Anlage bleibt garantiert stehen – zumindest zum Teil. Gebäude und Kühlturm des Schnellen Brüters in Kalkar sind inzwischen ein Freizeitpa­rk.

 ?? FOTO: BERND WEISSBROD/DPA ?? Neckarwest­heim 2 startete den Betrieb am 1. November 1989. Es gehört zu den letzten drei Atomkraftw­erken, die aktuell noch laufen.
FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Neckarwest­heim 2 startete den Betrieb am 1. November 1989. Es gehört zu den letzten drei Atomkraftw­erken, die aktuell noch laufen.

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