Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Krisen, Katastrophen, Kriege
Theater reagieren verstärkt auf aktuelle Entwicklungen – Stuttgarter Schauspiel sticht hervor
Deutschland ist zwar noch immer eines der reichsten Länder der Welt, die Menschen werden dennoch zunehmend von Existenz- und Zukunftsängsten geplagt. In Zeiten wie dieser, so der Eindruck, fühlen die Theater im deutschsprachigen Raum sich geradezu verpf lichtet, aktuell und schnell auf die drei K’s der Stunde zu reagieren: Krisen, Katastrophen und Kriege gehören immer selbstverständlicher zur täglichen Nachrichtenlage, also thematisiert man die Klimakaatstrophe, Pandemie und schon seit letzter Spielzahl vor allem den UkraineKrieg. Dabei treten, wie zum Beispiel am Landestheater Tübingen, dokumentarische Theaterformen in den Vordergrund. Dort wurde die aktuelle Saison mit einem Doku-Stück zum Klimakollaps eröffnete, Andres Veiels „Ökozid“. Oder wie am Landestheater Schwaben in Memmingen, wo Anfang Juni mit „Alles muss sich ändern – jetzt“eine Uraufführung auf dem Programm steht, in der „junge Regisseur*innen und Autor*innen“ein Stück zum Thema Klimawandel entwickeln.
Die Landestheater in Tübingen und Memmingen stehen stellvertretend für die Theater der Republik, die in der Regel mit einer Spielplanposition auf aktuelle Krisenkonstellationen reagieren. Größere Bühnen können sich mehr erlauben. Am Münchner Residenztheater zum Beispiel ist seit Dezember „Der Entrepreneur“zu sehen, mit dem der Autor und Regisseur Kevin Rittberger darauf aufmerksam macht, dass „in der bestehenden Wirtschaftsordnung die Klimaziele nicht erreicht werden können“. Und im Januar landete das Bayerische Staatsschauspiel mit einer Neuinterpretation der klassischen „Antigone“direkt in der Gegenwart des Ukraine-Krieges.
Blickt man in Richtung von Bühnen wie dem Deutschen Theater Berlin, Schauspielhaus in Hamburg oder dem Kölner Schauspiel ließe sich die Liste beliebig erweitern. Ein Theater sticht allerdings hervor: Das Stuttgarter Staatsschauspiel konzentriert sich schon seit der letzten Saison auf den Ukraine-Krieg und reagiert direkter als andere, indem es ukrainische Theaterkünstler
einlädt, damit sie mit eigens entwickelten dokumentarischen Projekten auf das Grauen in der Heimat reagieren. Diese Saison hat man das mit einer Inszenierung von Lena Lagushonkovas „Gorkis Mutter“fortgeführt. Es geht um Frauenschicksale in der Ostukraine und ein künstlerisches Theaterprojekt, das für eine Region sensibilisiert, die der Menschheitsverbrecher Putin gerade in eine Kriegswüste verwandelt („Schwäbische Zeitung“, 23.11.2022). Und gerade hat das Staatsschauspiel den Premierenreigen dieser Saison fast schon programmatisch mit zwei Produktionen abgeschlossen, in denen es wieder um die Ukraine und einmal mehr um die drohende Klimakatastrophe geht.
Ende April gab es mit der Uraufführung von „CITY X. Fragmente eines Krieges“ein ganz außergewöhnliches Projekt mit einem
dokumentarischen Text über Menschen in den Luftschutzräumen von Bachmut und Kiew, Mariupol und Odessa. Recherchiert und geschrieben haben die ukrainischen Autorinnen Luda Tymoshenko und Maryna Smilianets. Geplant und im Stadtraum inszeniert hat Gernot Grünewald, und der machte aus jedem Zuschauer zuerst einmal einen einsamen Wanderer direkt in der pulsierenden Vergnügungs- und Einkaufsmeile der Stuttgarter City. Man war einsam unterwegs, mit einem Kopf hörer auf den Ohren und geleitet von einer Stimme. Dann ging es runter in das Labyrinth dunkler Räume einer Tiefgarage und direkt hinein in Geschichten, in denen es um existentielle Not und Todesangst, aber auch um kleine Glücksmomente ukrainischer Menschen mitten im Krieg geht. In einem der unterirdischen Fluchträume webt eine
Frau aus Stoffresten Tarnnetze für die Front. In einem anderem kauert eine Frau auf einem Bett und wiegt ein Baby, das gerade hier unten geboren wurde.
Gespielt werden diese traumatisierten Menschen von Laiendarstellern, die erst kürzlich vor dem Ukraine-Krieg gef lohen sind oder schon einige Zeit in Deutschland leben. Vor einigen Tagen waren mit der Uraufführung von Thomas Köcks „forecast:ödipus. living on a damaged planet“auf der großen Schauspielbühne dann wieder die Stuttgarter Schauspieler an der Reihe. Köck ist der derzeit wichtigste Theaterautor im deutschsprachigen Raum. In seiner Neudichtung des Klassikers an sich, Sophokles’ „Ödipus“, macht er ironisch gebrochen und sprachspielerisch fantastisch darauf aufmerksam, dass unser beschädigter Planet es uns nicht verzeihen wird, wenn wir weiterhin lediglich unseren gierigen Wachstumshedonismus pf legen und wie dereinst Ödipus nicht erkennen, dass wir selbst der Grund allen Übels sind.
Mit der Uraufführung und einem Ensemble, das Köcks Text in schauspielerischer Höchstform umsetz (Regie: Stephan Pucher), ist da ein Theaterabend, der wirkt, als habe man es mit einer dokumentarische Recherche im Hier und Jetzt zu tun. Mit seinem Mut zu einem Theater der Aktualität beweist das Stuttgarter Schauspiel aber auch, dass ein Publikum aus der viel beschworenen Mitte der Gesellschaft nicht nur anspruchsvoll unterhalten sein will, sondern auch für anspruchsvolles Denktheater zu begeistern ist. www.schauspiel-stuttgart.de oder unter Tel. 0711/2020 90.