Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Stundentakt als revolutionäre Idee
Mit dem Allgäu-Schwaben-Takt war die Region vor 30 Jahren Vorreiter beim Nahverkehr
- Züge, die an Knotenpunkten jede Stunde in jede Richtung zur selben Minute abfahren, Linien, die alle aufeinander abgestimmt sind – was die Deutsche Bahn als Zukunftsvision unter dem Schlagwort Deutschlandtakt anstrebt, war im bayerisch-württembergischen Grenzgebiet vor exakt 30 Jahren schon einmal Realität. Damals wurde der Allgäu-Schwaben-Takt ins Leben gerufen, im ländlichen Raum der erste sogenannte integrale Taktverkehr in ganz Deutschland.
„Stündlich, pünktlich, jede Richtung“, „kürzer stop und öfter go“, mit diesen Slogans wurden 1993 T-Shirts und Jutebeutel bedruckt. In Aulendorf gab es ein Bahnhofsfest. Wie revolutionär der Allgäu-Schwaben-Takt für Reisende zwischen Lindau, Aulendorf, Garmisch, Augsburg und München ab dem 23. Mai 1983 war, erschließt sich erst, wenn man sich die Situation in den letzten Bundesbahn-Jahren vor Augen führt. „Damals war die politische Haltung, die Bahn ist nur etwas für den Fernverkehr und für Ballungsräume“, erinnert sich der pensionierte Eisenbahner Andreas Schulz. „In der Fläche wurde abgebaut. Es wurden Zugzahlen reduziert und nicht investiert.“
Die Schweiz dagegen hatte den Taktverkehr gerade etabliert. Das bedeutet: Züge kommen immer zur selben Minute an Knotenpunkten an, die Anschlüsse sind aufeinander abgestimmt, niemand muss lange am Bahnsteig warten. Eine Agentur bewarb das Konzept auch in anderen Staaten, in Deutschland finanzierten Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ein Gutachten zur Umsetzung. Schwaben sei als Pilotregion gewählt worden, weil Änderungen im Fernverkehr hier ohnehin einen neuen Fahrplan nötig machten, erinnert sich Schulz. Der gebürtige Isnyer wurde Projektleiter der Bundesbahn für die Einführung des AllgäuSchwaben-Taktes.
Reisende bekamen ein deutlich besseres Angebot: Plötzlich fuhren 50 Prozent mehr Regionalzüge als vorher. Besonders augenfällig war das auf der Württembergischen Allgäubahn. „Die Strecke Aulendorf-Kißlegg stand eigentlich auf der Abschussliste“, erinnert sich Ulrich Bauer vom Verkehrsclub Deutschland. Zeitweise fuhren nur noch drei Züge am Tag. „Ein
Tagesausf lug von Saulgau nach Wangen war mit der Bahn nicht zu machen. Wenn man in Aulendorf angekommen war, war der Anschluss mit Sicherheit weg.“
Mit dem Allgäu-SchwabenTakt stand plötzlich jede Stunde ein Zug bereit. Das Ergebnis: Innerhalb von drei Jahren vervierfachte sich die Zahl der Fahrgäste zwischen Kißlegg und Aulendorf. Auch andere Strecken verzeichneten Zulauf: Auf der Strecke Kißlegg-Leutkirch-Memmingen stieg die Zahl der Fahrgäste um 68 Prozent, zwischen Memmingen und Kempten um 34 Prozent.
„Es gab gar nicht so viel Personal“, erinnert sich Projektleiter Schulz an die Schwierigkeiten bei der Einführung. Allein zwischen Immenstadt und Lindau waren damals 41 Mitarbeiter für Weichen, Schranken und Signale vonnöten – wesentlich mehr als heute. Hinzu kam, dass die Bahnzentrale an vielen Stellen eigentlich Gleise und Signale abbauen wollte. Die Finanzierung des größeren Angebots habe aber funktioniert. Unter anderem, weil im Unterschied zu heute, wo verschiedene Bahnunternehmen die Gleise nutzen und dafür Trassenpreise zahlen müssen, die verstärkte Nutzung der Schienen keine Gebühren kostete.
Auch die gesetzlichen Vorgaben seien damals weniger kleinteilig gewesen. „Beispielsweise in
Wolfegg und Langenargen waren die Bahnsteige zu kurz“, erinnert sich Schulz. „Ein neuer Bahnsteig war damals in einem halben Jahr machbar. Heute dauert das fünf bis sechs Jahre.“
Nach einigen Jahren wurde das Konzept verwässert, unter anderem, weil Baden-Württemberg das Angebot ausdünnte – für den Schienen-Nahverkehr waren seit der Bahnreform 1994 die Länder zuständig, die dafür Aufträge an Bahnunternehmen vergeben. In Bayern wurde der Takt weiterentwickelt, „im Grundzug wird er noch so gefahren“, sagt Schulz. Der Name Allgäu-Schwaben-Takt verschwand dennoch als Marke, weil der Regionalverkehr inzwischen deutschlandweit zu großen Teilen vertaktet ist.
Anders der Fern- und Güterverkehr. Der soll nun nach und nach folgen, mit dem Deutschlandtakt. Ein deutlich größeres Projekt als sein schwäbisches Ur-Vorbild. 70 Jahre dauere die Umsetzung aller nötigen Infrastrukturvorhaben, hat Michael Theurer (FDP), Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium im März gesagt und dafür viel Spott eingesteckt. Klar ist: Der Deutschlandtakt kommt schrittweise. Ein solcher Schritt war die Eröffnung der Neubaustrecke Stuttgart-Ulm im Dezember.
Eisenbahner Schulz hat aus den Erfahrungen mit der Einführung
des Allgäu-Schwaben-Taktes die Lehre gezogen: „Kleckern bringt nichts, man muss klotzen.“Das tut der Bund. Bis 2027 investiert die Ampel-Koalition 45 Milliarden Euro in die Schiene. Teils soll das Geld aus einer Erhöhung der Lkw-Maut kommen.
Auch in der Region müsse in die Bahn-Infrastruktur investiert werden, fordert Ralf Derwing von der Initiative Bodensee-S-Bahn, hinter der Verkehrs- und Fahrgastverbände stehen. Die Elektrifizierung der Strecke Kißlegg-Aulendorf gehört für ihn dazu – und hätte eigentlich schon passieren müssen, als die Südbahn Friedrichshafen–Ulm und die Allgäubahn Lindau–München unter Strom kamen, was das Württembergische Allgäu als Lücke zurückließ. „Es wird nur stückchenweise geplant“, klagt Derwing. Er erinnert außerdem daran, dass Grüne und CDU im Koalitionsvertrag für Baden-Württemberg einen HalbStunden-Takt im Nahverkehr in Aussicht stellen. Das ist Teil der geplanten Mobilitätsgarantie des Landes – ob und wann diese umgesetzt wird, ist aber aus finanziellen Gründen bislang offen.
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