Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Österreich entsetzt über Orbán
Ungarns Premierminister lässt Schlepper frei – Wien verschärft die Grenzkontrollen
(dpa) - Viktor Orbán bezeichnet sich selbst gerne als „Burgkapitän der letzten Festung Europas“. An der 160 Kilometer langen Grenze zu Serbien erschwert ein stacheldrahtbewehrter Metallzaun irreguläre Grenzübertritte. Wer in Ungarn ohne gültige Reisepapiere gefasst wird, den schickt die Polizei nach Serbien zurück. Auf ungarischem Boden ist es unmöglich, einen Asylantrag zu stellen. Politiker in Westeuropa, den Zielländern von Flüchtenden und Migranten, beneiden mehr oder weniger unverhohlen die Handlungsmächtigkeit des Rechtspopulisten, der seit 2010 regiert und Ende des Monats 60 Jahre alt wird.
Doch jetzt öffnet Orbán auf einmal die Gefängnistore für die in Ungarn verurteilten ausländischen Menschenschmuggler. Eine Verordnung von Ende April hält fest: Wer in Ungarn als Ausländer wegen Schlepperei eine rechtskräftig gewordene Gefängnisstrafe verbüßt, über den wird eine sogenannte Reintegrationshaft verhängt. Für deren Vollzug wäre aber nicht Ungarn zuständig, sondern das jeweilige Heimatland. Bedingung ist außerdem, dass der Täter Ungarn innerhalb von 72 Stunden verlässt — in welche Richtung, steht dem Betroffenen völlig frei.
Es ist ein für Orbáns Herrschaftsweise typisches Spiel mit Worten. Denn in der Praxis bedeutet die neue Regelung nichts anderes, als dass bestimmte ausländische Kriminelle, unabhängig davon, wie viel sie von ihrer Haftstrafe abgesessen haben, freikommen und in irgendein anderes Land weiterziehen. In Ungarn sind knapp 2000 Ausländer aus mehr als 70 Ländern wegen Schleppervergehen inhaftiert. Etwa 700 von ihnen verbüßen nach offiziellen Angaben aus Budapest rechtskräftig
gewordene Haftstrafen. Sie bekommen nun unmittelbar die Freiheit geschenkt. Die anderen sitzen in Untersuchungshaft oder warten noch auf das Urteil zweiter Instanz — sobald dieses vorliegt, sind auch sie freie Menschen.
Der private Fernsehsender RTL Klub zeigte in der vergangenen Woche Bilder, auf denen zu sehen war, wie fünf ausländische Männer vor dem Bahnhof von Szombathely aus einem Kleinbus der örtlichen Justizvollzugsanstalt stiegen. Die Stadt im Westen Ungarns liegt gerade mal 15 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt.
Im Nachbarland schrillen die Alarmglocken. Schon am Sonntag ordnete das Wiener Innenministerium verstärkte Kontrollen der Grenze zu Ungarn an. Ungarische Wochenpendler standen am Sonntagabend am Grenzübergang Nickelsdorf anderthalb Stunden im Stau, berichtete das Verkehrsportal autosektor.hu.
Außenminister Alexander Schallenberg bestellte am Montag Ungarns Botschafter Andor Nagy in sein Ministerium ein. „Hier wollen wir volle Auf klärung, weil wir halten das für ein völlig falsches Signal“, sagte Schallenberg in Brüssel. Außerdem stehe die Polizeizusammenarbeit mit Ungarn
auf dem Prüfstand, hieß es aus dem Haus von Innenminister Gerhard Karner.
Für die Regierung in Wien kommen die Freilassungen politisch und diplomatisch ungelegen. Denn die konservative Kanzlerpartei ÖVP hatte angesichts schwacher Umfragewerte in den vergangenen Monaten vor allem auf das Thema Migration gesetzt, um gegenüber der rechten Oppositionspartei FPÖ an Boden zu gewinnen.
Die Begründung der Budapester Regierung für die neue Politik klingt zynisch. „Wir wollen nicht mit dem Geld ungarischer Steuerzahler Hunderte Menschenschmuggler gefangen halten, die heute in den Genuss der Versorgung in ungarischen Gefängnissen kommen“, sagte Kanzleramtsminister Gergely Gulyas. Tatsächlich sind die Gefängnisse des Landes überfüllt. Das ist darauf zurückzuführen, dass Orbán das Strafrecht laufend verschärfte und deshalb Menschen bereits wegen relativ kleiner Vergehen im Gefängnis landen.
Das Schlepperwesen ist ein brutaler Zweig des organisierten Verbrechens. In den Laderäumen heillos überfüllter Laster können Menschen ersticken. Die Drahtzieher, die im Hintergrund bleiben und selten gefasst werden, stecken Millionen von Euro ein. Von der Polizei gestellt und gerichtlich verurteilt werden meist nur die Fahrer von Schlepper- und Begleitfahrzeugen.
Ihnen drohen in Ungarn im Fall der Festnahme besonders harte Gefängnisstrafen. Für Schlepperei sieht das ungarische Strafgesetzbuch zwei bis acht Jahre, in schweren Fällen bis zu 20 Jahre vor. In der Freilassungsaktion sieht die ungarische Oppositionsabgeordnete Agnes Vadai so etwas wie eine „gefährliche Amnestie“. Hunderte Menschenschmuggler würden nun „auf Ungarn und auf Europa losgelassen“, meint sie.