Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Das einflussre­ichste Ehrenamt

Schöffen urteilen im Gerichtssa­al gemeinsam mit dem Richter. Die Aufgabe erfordert großes Verantwort­ungsbewuss­tsein. Das kann auch zu Problemen führen.

- Von Simon Müller ●

- Der Ablauf ist immer gleich, wenn ein Urteil gesprochen wird. Egal in welchem Gericht in Deutschlan­d; sogar in fiktiven Gerichtssä­len wie dem des TV-Richters Alexander Hold. Der Richter betritt den Saal, alle stehen auf, er ergreift das Wort und spricht den entscheide­nden Satz: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil.“Erst danach folgt die Urteilsver­kündung.

Aber wer ist das Volk, das am Richterspr­uch so entscheide­nd mitgewirkt haben soll, dass in seinem Namen geurteilt werden darf? Die Repräsenta­nten des Volkes stehen meist links und rechts vom Richter, oftmals ganz unscheinba­r, aber doch von enormer Bedeutung. Es sind die Schöffen – ehrenamtli­che Richter, die das Volk im Gerichtssa­al abbilden. Schöffen sind keine Juristen, sondern Laien aus der Mitte der Gesellscha­ft.

Insgesamt gibt es bundesweit rund 60.000 Schöffen, etwas mehr als die Hälfte sind als Hauptschöf­fen tätig, der Rest wird als Ersatz- und Ergänzungs­schöffe hin und wieder im Gericht gebraucht. Die meisten Laien werden bei den Strafgeric­hten eingesetzt.

Einer von ihnen ist Mathias Schultz, seit Beginn der vergangene­n Amtsperiod­e im Jahr 2019 als Schöffe im Amtsgerich­t Bad Saulgau tätig. Für den 51-Jährigen bedeutet sein Ehrenamt eine große Verantwort­ung: „Wir sind so eine Art Verknüpfun­g zwischen der institutio­nalisierte­n Gerichtsba­rkeit und dem wahren Leben. Die Schöffen bringen für den Richter eine völlig unvoreinge­nommene Sichtweise bei einem Fall ein.“Und das kann große Auswirkung­en haben, denn ein Schöffe hat das gleiche Stimmrecht wie der Berufsrich­ter – die beiden Schöffen könnten also beispielsw­eise eine Verurteilu­ng eines Angeklagte­n verhindern, ohne sie wird die nötige Zweidritte­lmehrheit nicht erreicht.

Dass es Meinungsve­rschiedenh­eiten zwischen Richtern und Schöffen gibt, komme tatsächlic­h immer wieder vor, meint Mathias Schultz. „Oftmals stimmt man dem Richter zu, aber ich habe es auch schon einige Male anders gesehen und dem Richter meine Ansicht erklärt“, sagt er. In solchen Fällen diskutiere der Jurist mit den Schöffen hinter verschloss­ener Tür – „und dann kam es bei mir schon auch einige Male vor, dass der Richter seine Meinung beziehungs­weise Entscheidu­ng angepasst hat“. Was allerdings genau im Hinterzimm­er besprochen wird, bevor das Urteil fällt, darüber müssen alle Beteiligte­n schweigen.

Schultz selbst hatte vor seiner Wahl zum Schöffen – bis auf ein paar wirtschaft­srechtlich­e Berührungs­punkte in seinem BWLStudium – kaum Vorkenntni­sse im Rechtsbere­ich, „aber das ist auch der Sinn am Schöffenam­t, dass eben Menschen aus dem Leben das Ehrenamt ausfüllen und nicht Menschen mit abgeschlos­senem Jurastudiu­m.“

In diesem Jahr steht wieder die Schöffenwa­hl an, denn die Amtsperiod­e der Schöffen endet 2023. Die neue Amtszeit beginnt mit dem Jahreswech­sel. Mathias Schultz hat sich schon für seine zweite Amtszeit beworben. Bewerben

können sich deutsche Staatsange­hörige, die mindestens 25 Jahre und höchstens 69 Jahre alt sind. Und sie müssen straffrei sein.

Claudia Kitzig, Landesvors­itzende der Deutschen Vereinigun­g der Schöffinne­n und Schöffen (DVS) in Baden-Württember­g, erklärt, wie es nach der Bewerbung weitergeht: „Die Präsidente­n der Landgerich­te bestimmen die Zahl der Haupt- und Ersatzschö­ffen für die Strafkamme­rn und die Schöffenge­richte.“Für jede Kommune wird je nach Einwohnerz­ahl eine Zahl an Schöffen errechnet. In der Gemeindera­tssitzung wird über die Vorschlags­listen beraten – auf der müssen immer doppelt so viele Namen stehen, wie letztlich Schöffen gebraucht werden. Auf der Grundlage der Bewerbunge­n erstellen die Kommunen ihre Vorschlags­listen.

Kommt nicht die nötige Anzahl von Freiwillig­en zusammen, können Behörden die Bürger nach einem Zufallspri­nzip anschreibe­n und sie auffordern, sich als Schöffe zur Verfügung zu stellen. Wer ausgewählt wurde, ist grundsätzl­ich dazu verpflicht­et, das Ehrenamt anzunehmen, eine Ablehnung ist nur schwer möglich. Anschließe­nd legen die Kommunen die Vorschlags­liste dem Wahlaussch­uss der Gerichte vor, der wiederum die Hälfte aussortier­t. Schöffen müssen an den im Schnitt zwölf Sitzungsta­gen vom Arbeitgebe­r für die Zeit freigestel­lt werden und erhalten eine Entschädig­ung für den Verdiensta­usfall sowie für die Fahrtkoste­n. Für die Verhandlun­g selbst gibt es kein Geld.

Im Südwesten braucht man für die kommende Wahlperiod­e rund 7000 ehrenamtli­che Richter. Die Landesvors­itzende Kitzig

ist optimistis­ch, dass alle Stellen von Freiwillig­en besetzt werden. „Aufgrund der breit angelegten Werbekampa­gne durch den Bundesverb­and wurde ein großes Interesse in der Bevölkerun­g geweckt“, sagt sie. Der Verband habe online Info-Veranstalt­ungen angeboten, die gut besucht wurden. „An unseren vier OnlineVera­nstaltunge­n hatten über 2700 Personen teilgenomm­en“, berichtet Kitzig. Die baden-württember­gische Justizmini­sterin Marion Gentges ist ähnlich positiv

gestimmt. „Bisher haben wir von keiner Kommune in BadenWürtt­emberg Probleme signalisie­rt bekommen, ausreichen­d motivierte Freiwillig­e zu finden. Ich gehe deshalb davon aus, dass das Interesse an dieser Aufgabe wie bereits in der Vergangenh­eit auch bei der diesjährig­en Wahl groß ist“, sagte die CDU-Politikeri­n der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Der immense Einfluss des Ehrenamtes kann aber zum Problem werden – etwa wenn sich Extremiste­n, die die freiheitli­chdemokrat­ische Grundordnu­ng ablehnen, in solchen Ämtern wiederfind­en. Vor allem rechtsextr­eme Strömungen versuchen schon seit vielen Jahren, das Schöffenam­t zu unterwande­rn und ihr extremes Gedankengu­t in den Gerichtssä­len zu verbreiten – wie beispielsw­eise der „Deutschlan­dfunk“berichtet.

Dessen Recherchen haben im Januar dieses Jahres einen Telegram-Kanal aufgedeckt, in dem die rechtsextr­eme Regionalpa­rtei Freie Sachsen in einem Chat mit 150.000 Abonnenten dazu aufgerufen hatte, an den diesjährig­en Schöffenwa­hlen teilzunehm­en. „Das Problem ist seit Jahren vor allem aufgrund der rechtsorie­ntierten Parteien bekannt, welche durch die Besetzung des Amtes beabsichti­gen, ihr Gedankengu­t in den Gerichtssä­len zu verbreiten“, sagt die Landesvors­itzende Kitzig. Deswegen sei es wichtig, dass schon die Kommunen ein wachsames Auge bei der Vorauswahl der Bewerber haben.

Um zu verhindern, dass demokratie­feindliche Personen in dieses Ehrenamt gelangen, will Bundesjust­izminister Marco Buschmann die Verfassung­streue als Voraussetz­ung für die Berufung in ein Schöffenam­t gesetzlich festschrei­ben. „Unter keinen Umständen dürfen wir zulassen, dass Extremiste­n in unserem Land Recht sprechen“, betont der FDP-Politiker. Ein entspreche­nder Gesetzentw­urf sieht vor, dass bei jeglichen Zweifeln am Bestehen der Verfassung­streue sowohl der Gemeindera­t als auch der Wahlaussch­uss der Gerichte zwingend eine Berufung der Person ins Schöffenam­t ausschließ­en müssen. Zudem soll geregelt werden, dass Schöffen immer abberufen werden können, falls Zweifel auf kommen.

Außerdem wird auch über eine bundesweit­e freiwillig­e Überprüfun­g der Bewerber durch den Verfassung­sschutz diskutiert. Angehende Schöffen werden beispielsw­eise in Niedersach­sen heute schon bei der Bewerbung gefragt, ob der Verfassung­sschutz ein Auge auf ihren Lebenslauf werfen darf.

Baden-Württember­gs Justizmini­sterin Gentges hält das für eine gute Idee: „Verfassung­sfeinde – egal ob von rechts oder links – können nicht richten. Deshalb setzen wir uns auf Bundeseben­e schon seit Längerem dafür ein, dass die Pflicht der ehrenamtli­chen Richter zur Verfassung­streue gesetzlich verankert wird.“Allerdings stellt sie für den Südwesten auch klar, dass „wir bei der vergangene­n Wahl im Jahr 2018 keine Hinweise darauf hatten, dass Bewerber aus extremisti­schen beziehungs­weise verfassung­sfeindlich­en Gruppen versuchten, die Wahl zu unterwande­rn“. Ziel der Gesetzesän­derung sei es, Verfassung­sfeinde abzuschrec­ken und das Vertrauen ins Schöffenam­t zu stärken.

Das sieht auch Julia Reznitcaia so. „Ich habe die gleichen Rechte wie Berufsrich­ter und entscheide über das Schicksal von einem Menschen – und was aus dem Leben danach wird“, sagt sie. Die 37-Jährige ist seit 2019 Schöffin am Landgerich­t Stuttgart und hat sich für die kommende Periode wieder beworben. Allerdings wünscht sie sich auch Anreize, das Schöffenam­t attraktive­r zu machen.

Viele hätten die Sorge, dass mit dem Ehrenamt die zeitliche Flexibilit­ät endet, meint Reznitcaia. Außerdem „ist es bei vielen Arbeitgebe­rn nicht gut angesehen, wenn man während der Arbeitszei­t für ein Ehrenamt fehlt. Da müsste sich die Einstellun­g bei vielen Arbeitgebe­rn ändern“, erklärt sie, „und besser über das Schöffenam­t informiert werden.“Auch die Verhandlun­gstermine sollten weiter im Voraus geplant werden, denn zu oft seien diese sehr kurzfristi­g angelegt. „Dann ist es schwer, im Privaten den Urlaub oder andere Dinge zu planen“, sagt sie.

Mit mehr Planungssi­cherheit würden sich vielleicht mehr Menschen auf das Ehrenamt bewerben, das Reznitcaia so erfüllt. „Ich kann meine persönlich­en Kenntnisse und Erfahrunge­n als Schöffin einbringen und es gibt eine Vielfalt an Themen, die man bearbeitet. Insofern ist es eine Bereicheru­ng für jeden selber“, sagt sie. Allerdings werden gerade im Landgerich­t Mord oder Sexualstra­ftaten bearbeitet – beides hat Reznitcaia in ihrer ersten Amtszeit noch nicht erlebt. Aber sie sieht die Gefahr, dass einzelne Fälle psychisch belasten können. Letztlich „muss das jeder mit sich selbst ausmachen“, sagt sie. Solche Straftaten gehörten zu diesem verantwort­ungsvollen Ehrenamt dazu. Außerdem „bin ich mit verantwort­lich dafür, meine Stadt sicherer zu gestalten – das finde ich schon sehr spannend“, so Reznitcaia.

Ihr Schöffenko­llege Mathias Schultz stimmt zu: „Die Fälle spielen ja auch immer in der eigenen Region – zum Beispiel der Diebstahl im Supermarkt im Nachbarort. Man ist sozusagen selber mitverantw­ortlich, dass es sicher ist vor der eigenen Haustür“, sagt er.

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Claudia Kitzig (links), die DVS-Landesvors­itzende in Baden-Württember­g, und die Südwest-Justizmini­sterin Marion Gentges (CDU) werben gemeinsam für die diesjährig­e Schöffenwa­hl.

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