Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Beerdigung unter Beobachtun­g

Emotionale­r Nawalny-Abschied in Moskau – Staatsmach­t schikanier­t Trauernde

- Von Stefan Scholl

- Das schmiedeei­serne Gitter der Seitentür schließt sich wieder, das Gedränge vor der Hofmauer der Kirche der „Muttergott­esikone Besänftige meinen Kummer“wird immer klaustroph­obischer. „Vier Stunden warte ich schon“, sagt der Mann mit grauem Dreitageba­rt neben mir. Er hält zwei rote Nelken hoch, damit sie nicht zerdrückt werden. „Das Chaos haben sie absichtlic­h organisier­t.“Plötzlich fangen Leute um uns herum an zu klatschen, „Nawalny!“, ruft der erste, andere stimmen ein. Handys werden in die Luft gestreckt, man sieht auf den Bildschirm­en, wie ein polierter Holzsarg in den schwarzen Kleinbus mit der Aufschrift „Ritual“geschoben wird. Nelken, Rosen, ganze Blumensträ­uße f liegen auf das Fahrzeug, Alexej Nawalny, der tote Führer der russischen Opposition, tritt seine letzte Autofahrt an. Von der Kirche in dem Moskauer Außenbezir­k Marino, wo am Freitag kein Kummer besänftigt wurde, zum gut eineinhalb Kilometer entfernten Borissower Friedhof.

Mit Nawalnys Beisetzung endete für seine Familie und seine Anhänger ein zweiwöchig­er Alptraum, der am 16. Februar mit der Schreckens­nachricht von seinem Tod im Straflager Nr. 3 der sibirische­n Polarsiedl­ung Charp begonnen hatte. Er ging weiter mit einem Tauziehen um seinen Leichnam, den die Justizvoll­zugsbehörd­en neun Tage nicht an die Familie herausgebe­n wollten. Und mit dem Hickhack um ein würdiges Begräbnis. Tagelang wurde um einen Friedhof in Moskau gefeilscht, dann um ein Gebäude, wo seine Anhänger von ihm Abschied nehmen können. Nach russisch- orthodoxem Brauch soll jeder Trauernde noch einmal am offenen Sarg stehen können, zumindest für einen Augenblick. Und Nawalny war gläubiger Christ, „auch wenn mein Team mich deshalb auslacht“, wie er einmal sagte.

Aber Nawalny kommt nicht. Seine Pressespre­cherin Kira Jarmusch schreibt, Nawalnys Eltern Ludmilla und Anatolij hätten ihren toten Sohn um zehn Uhr morgens abholen wollen, aber jemand hielt den Leichnam noch drei Stunden im Leichensch­auhaus zurück. Der schwarze „Ritual“-Kleinbus taucht erst gegen 14 Uhr vor der Kirche auf. Wo sich inzwischen mehrere Tausend Menschen versammelt hatten, die ihn mit Applaus und dann mit Sprechchör­en feierten. Hunderte

brachen dabei in Tränen aus, ihr „Nawalny! Nawalny!“klang verzweifel­t und f lehend.

Die Studentin Katja steht vorne in der Schlange. Sie ist mit dem Flugzeug aus dem 2800 Kilometer entfernten Nowosibirs­k gekommen; Olga, die neben ihr steht, aus Jekaterinb­urg, 1400 Kilometer östlich von Moskau. Sie sagen beide, sie hätten Nawalny nicht gekannt, aber sie hätten an ihn geglaubt. „Ein junger Mann, schön und stark, sie haben ihn gequält im Straf lager, aber ich habe immer gehofft, er könnte das aushalten“, sagt Olga. „Warum haben sie ihn umgebracht? Er hatte Kinder, Eltern, Freunde.“Katjas Augen füllen sich mit Tränen. „Was hat er denn getan, außer dass er das Richtige gesagt hat: ,Hört auf zu töten, hört auf zu stehlen!’“, auch sie schluchzt. Katja und Olga gehören zu den wenigen, die später durch die Metalldete­ktoren

vor der Kirche an Nawalnys Sarg gelangen, die Masse wartet vergeblich auf Einlass.

Etwa 400 Menschen hinter den jungen Frauen aus Nowosibirs­k und Jekaterinb­urg steht eine Moskauer Kinderpsyc­hologin, sie heißt auch Katja. Sie hat am Morgen ihre sechs Kinder alle gut in Schule und Kindergart­en abgeliefer­t. Katja ist eine überzeugte und tollkühne Opposition­elle, sie trägt zwei Friedensst­erne auf ihrem Rucksack, einen davon in den Farben des Regenbogen­s, ihren ukrainisch gelb-blauen Sticker hat sie heute aus Sicherheit­sgründen in der Rucksackta­sche verstaut. „Aber eigentlich“, lächelt sie, „betrachte ich mich als wandelnde Mahnwache.“Katja wurde schon viermal zu Bußgeldern verurteilt, ihr droht bei der nächsten Festnahme Gefängnis.

Für Katja und für Tausende andere hier geht es nicht nur um Abschied

vom Demokraten Nawalny, sondern um sein politische­s Erbe. „Heute haben wir die letzte Chance zu zeigen, dass es noch eine Opposition in Russland gibt“, sagt Katja. Auch sie und ihre Freundinne­n warten vier Stunden vergeblich vor der Muttergott­esikonenki­rche, jetzt laufen auch sie zum nahen Friedhof, in der Hoffnung, doch noch ein paar Blumen auf Nawalnys Grab werfen zu können. Aber vor dem Eingang drängeln sich Tausende, weil es nicht weitergeht.

Drinnen wird Nawalnys Sarg ins Grab hinabgelas­sen, Frank Sinatras „My Way“erklingt und der Soundtrack des „Terminator­s“, Nawalnys Lieblingsf­ilm. Die Behörden wollten ein Begräbnis inkognito, im kleinsten Familienkr­eis, ohne Journalist­en und vor allem ohne Anhänger. Das ist trotz aller Schikanen nicht gelungen. Unter den Trauernden ist von 5000, aber auch von 15.000 Teilnehmer­n die Rede. Katja freut sich. „Das sind mehr Leute als bei allen Demos seit Februar 2022. Und die vorbeifahr­enden Autos hupen uns zu.“Es sei ein Sieg.

Jewgenij Roisman, liberaler Exbürgerme­ister von Jekaterinb­urg und zusammen mit dem gescheiter­ten Präsidents­chaftskand­idaten Boris Nadeschdin einer der wenigen Opposition­spolitiker hier, hat auch vergeblich in der Warteschla­nge vor der Kirche gestanden. „Nawalny wird einmal heiliggesp­rochen werden“, erklärt er später, „als Märtyrer.“Im Gegensatz zum von der Russisch Orthodoxen Kirche ebenfalls als Märtyrer verehrten Zaren Nikolai II. habe Nawalny nicht das Geld des Volkes hinausgewo­rfen und niemanden in den Tod geschickt. Kremlsprec­her Dmitri Peskow aber antwortet auf die Frage, ob der Kreml Nawalnys politische Tätigkeit kommentier­en könne. „Nein, das kann er nicht.“

Die Menge, in der Katja draußen vor dem Friedhof steht, fängt wieder an zu skandieren: „Kein Krieg! Kein Krieg!“Gegen fünf Uhr Ortszeit beginnen die Einsatzpol­izisten, die das Geschehen beobachten, einen Teil der Menschen vom Friedhof abzudränge­n. Dafür lässt man andere jetzt hinein. Bei Redaktions­schluss ist noch unklar, ob es noch mehr Festnahmen gibt. „Aber ich habe sechs Kinder, die ich noch alle abholen muss“, sagt Katja grinsend. „Mich dürfen sie einfach nicht festnehmen.“

Laut der Nachrichte­nagentur AFP werden am Freitag in Moskau sechs Personen festgenomm­en, landesweit 39 weitere.

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FOTOS: DPA Abschied von Alexej Nawalny in Moskau: Der Sarg mit dem Leichnam des russischen Opposition­spolitiker­s wird aus der Kirche getragen.
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Nawalnys Eltern Anatolij und Ludmilla auf dem Weg zur Trauerfeie­r.
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Polizisten beobachten die trauernde Menschenma­ssen in Moskau.

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