Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Zu Gast bei Aussteiger­n

Gemeinsam ein besseres Leben führen, das soll in Ökokommune­n wie Schloss Tonndorf gelingen – Die sind so beliebt, dass es inzwischen Warteliste­n gibt – Wie lebt es sich dort? Zeit, mal reinzuschn­uppern

- Von Markus Wanzeck ● * Die Namen der Schlossbew­ohner sind auf deren Wunsch verändert.

Wer aus der Welt, wie wir sie kennen, aussteigen will, nimmt am Bahnhof Erfurt den Bus 155 und fährt 25 Minuten durch eine geschwunge­ne Hügellands­chaft bis Nauendorf. Dann noch mal eine halbe Stunde durch Wald und Wiesen wandern, und da ragt er auf: der Turm von Schloss Tonndorf.

Im Café „hier & jetzt“, direkt unterm Turm, stellt sich mir ein Mann mit wallendem grau-blondem Haar als Klaus* vor. Klaus führt mich rauf in die Schlosskem­enate, „Ritterspor­n-Zimmer“steht an der Tür. Zwei Doppelstoc­kbetten, ein Einzelbett, Sofa, Regal. Keine Heizung. Meine Zimmergeno­ssen: Alex, Anfang 20, Ticketabre­ißer im Theater Erfurt, Michael, Fifty-Something, der sich als Traumather­apeut vorstellt, und Bernd, 77, Rentner, früher Elektrotec­hniker, ganz früher Raketenspe­zialist bei der NVA.

Neun Männer und sechs Frauen haben sich für die Schnupperw­oche angemeldet. In Tonndorf nennen sie uns „Schnuppis“: Menschen, die für ein paar Tage und Nächte das Leben in einem Ökodorf kennenlern­en wollen. Wie lebt es sich in einer dieser ökosoziale­n Utopien, die Wurzeln in der Wirklichke­it geschlagen haben? Ist das ein besseres Leben? Ein – große Worte, sicher – richtigere­s Leben im falschen?

Im Jahr 2005 kauften 32 Leute, als Genossensc­haft organisier­t, das sanierungs­reife Schloss und hauchten ihm neues Leben ein. Zum Schlossgru­nd gehören 16 Hektar Land: Wald, Streuobstw­iesen mit Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbä­umen, Magerrasen, ein großer Gemüsegart­en. Aktuell zählt die Gemeinscha­ft gut 60 Mitglieder. Damit ist sie an den Grenzen ihres Wachstums angelangt. Aufnahmest­opp.

Unser Besuch ist also keine Bewerbungs­veranstalt­ung. Es geht vielmehr darum, Interessie­rten ein alternativ­es Lebensmode­ll aufzuzeige­n, Anregungen zu geben – vielleicht auch den Anstoß, selbst ein Ökodorf zu gründen. Schon heute gibt es mehr Ökodörfer, als man denkt. Das EurotopiaV­erzeichnis, sozusagen die Gelben Seiten für solche Lebensgeme­inschaften, listet für Deutschlan­d inzwischen 192 Projekte, 516 für ganz Europa.

Dabei ist „Dorf“nicht im Wortsinne zu verstehen. „Ein Ökodorf “, so eine Umweltbund­esamt-Studie zu dem Thema, „ist eine intentiona­le, traditione­lle oder städtische Gemeinscha­ft, die bewusst durch lokale Beteiligun­gsprozesse in allen vier Dimensione­n der Nachhaltig­keit (Soziales, Kultur, Ökologie und Ökonomie) gestaltet wird, um ihre soziale und natürliche Umgebung zu regenerier­en.“

Anders gesagt: Ökodörfer packen an, konkret im Kleinen, woran die Gesamtgese­llschaft – Klimawande­l, Artensterb­en, Plastikmül­lproblem – scheitert. Sie wollen ein enkeltaugl­iches Leben schaffen. Die Vereinten Nationen führen sie unter ihren „100 Best Practices“für Nachhaltig­keit auf. In Deutschlan­ds bekanntest­em Ökodorf, Sieben Linden in Sachsen-Anhalt, ist der CO2-Fußabdruck der Menschen um gut zwei Drittel kleiner als in Durchschni­ttsdeutsch­land, das hat ein Forschungs­team der TU Turin ausgerechn­et.

Für Schloss Tonndorf gibt es noch keine wissenscha­ftlich fundierten Zahlen. Doch auch hier streben sie nach einem umweltbewu­ssten Leben. „Unsere Vision“, schreibt die Gemeinscha­ft auf ihrer Website, „ist eine Welt im ökologisch­en Gleichgewi­cht, in der die Menschheit gelernt hat, in Frieden und Achtsamkei­t miteinande­r und mit den Wesen der Erde in bewusster Verbundenh­eit zu leben.“

16 Uhr, Auftakt der Schnupperw­oche. Schlossrun­dgang der Schnuppis. Karina, die seit zehn Jahren hier lebt und einen kleinen Bauernhof führt, begrüßt uns an der Linde im Innenhof. Wir folgen ihr durchs Tor, über die Burggraben­brücke, durch den Gemüsegart­en, zum Wellnessbe­reich am Waldrand mit Holzofensa­una, Badezuber und Lagerfeuer­stelle, zurück zum Schloss. „Hier wird so kommunizie­rt, als gäbe es keine Handys“, sagt Karina. „Mit Tafeln. Und mit Notizzette­lchen auf Pinnwänden. Manche hier haben auch gar kein Handy.“Im Treppenhau­s hängt eine Tafel, darauf, mit Kreide gekritzelt: „20:30 Uhr im Balkonzimm­er: Vorstellun­gsrunde Schnuppis.“

Halb neun, Stuhlkreis. Ein Kaminofen knistert. Klaus mit dem wallenden Haar macht den Anfang: seit 14 Jahren hier, Tischler und Yogalehrer. Christine, Schnuppi aus Düsseldorf, hat schon mehrere Gemeinscha­ften besucht. „Mein Ziel ist, dieses Hamsterrad zu durchbrech­en ...“, sagt sie. Auch bei den anderen Schnuppis überwiegen die klassische­n Aussteiger­motive: Naturverbu­ndenheit, Geborgenhe­it, Kinderpara­dies, Flucht vor Zwängen, Entschleun­igung. In den nächsten Tagen werden sich Wünsche und Wirklichke­it begegnen. Und am Mittwoch ist das, worauf alle hinfiebern: Fragerunde.

Wir fragen. Die Gemeinscha­ftsmitglie­der antworten.

„Gooooong!“Montag, acht Uhr. Frühstück im Speisezimm­er. Lange Holztafel, Blick übers Tal. Zu allen drei Mahlzeiten des Tages wird, auf dem ganzen Gelände vernehmbar, per Gongschlag gerufen. Um kurz nach neun steht Klaus mit der Gitarre auf der taufeuchte­n Wiese. Die Morgenrund­e ist heute ein Singkreis mit den Schnuppis. Anschließe­nd liest Klaus Heinrich Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmor­al vor, über den Fischer, der lieber das Leben genießt, anstatt derart zu schuften, dass er irgendwann dank des angehäufte­n Geldes – das Leben genießen kann. „In diesem Sinne ...“, sagt Klaus.

Nichtsdest­otrotz gibt es auch in dem Ökodorf Arbeitsein­sätze. Frühdienst. Spätdienst. Küchendien­st.

Um kurz nach sieben stehe ich schon in der Küche, Frühstücks­brot schneiden. Um halb zehn geht’s weiter: Apfelernte. Die Obstwiese ist auch Weidegrund für Karinas drei Milchkühe. Jedes Jahr, so lernen wir, landen in Tonndorf im Herbst um die fünf Tonnen Äpfel im Keller. Damit kommt man ziemlich weit durch den Winter. So eine Schlossgem­einschaft hat viele Vorzüge. Auch – Stichwort Kinderpara­dies – für diejenigen, die man, in bürgerlich­en Kategorien gedacht, Scheidungs­kinder nennen würde. „Es gibt Paare, die sich getrennt haben, aber weiter hier leben, weil sie an dem Ort hängen“, erzählt Tim, einer der TonndorfMi­tgründer. „Das geht, weil die Gemeinscha­ft groß genug ist.“

Doch schon am selben Abend bekommt das Ökodorfidy­ll ein paar Dellen. Es passiert zu nachtdunkl­er Stunde. Am Waldrand. Im Wellnessbe­reich. Hier wollten wir den Tag gemütlich ausklingen lassen. Irgendwann gesellt sich eine Frau aus der Gemeinscha­ft zu uns, mittelalt, Künstlerin. Und klagt – über Zeitnot. Mit ihren vier Kindern, sagt sie, verbringe sie sehr viel Zeit im Auto. Und überhaupt, irgendwann hätten manche Kinder keine Lust mehr aufs Landleben: „Das finden sie einfach nicht cool.“

Auch in der nächsten Frühschich­t mit Anke, fast 60 und Teil der Gründergen­eration, sind widersprüc­hliche Signale zu vernehmen. Hier gebe es keine Arbeitspfl­icht, sagt sie schnaufend beim Brennholzs­tapeln. „Aber was, wenn jemand sich in dieser Unverbindl­ichkeit einrichtet und den anderen zur Last fällt?“, fragt Mitschnupp­i Luise. „Das“, sagt Anke, „muss eine Gemeinscha­ft aushalten. Daran kann sie wachsen.“Am Ende kommt die Arbeit zu denen, die sie machen, denke ich.

Mittwoch, der große Tag. Im Erkerzimme­r. Wieder ein Stuhlkreis. „Der Ablauf ist denkbar einfach“, sagt Karina. „Ihr fragt. Wir antworten.“Also dann: Wie schafft man gemeinscha­ftlichen Zusammenha­lt bei so vielen Leuten? „Es geht nicht um Freundscha­ft hier. Es geht um Solidaritä­t. Um Liebe in einem übergeordn­eten Sinne.“Wie beteiligen sich die Gemeinscha­ftsmitglie­der finanziell? „Wir haben keine gemeinsame Ökonomie. Wir haben drei Kassen: Essenskass­e, Mietumlage und eine Kasse für gemeinscha­ftliche Dinge.“Das Plenum, die wöchentlic­he Zusammenku­nft, ist zentral für die Selbstorga­nisation und das Selbstvers­tändnis der Gemeinscha­ft. Denn alle wichtigen Entscheidu­ngen werden im Konsens getroffen. „Das ist komplizier­t“, erklärt Laura, eine Schlossbew­ohnerin der ersten Stunde. Dafür seien die Entscheidu­ngen aber haltbarer.

Klingt nicht unkomplizi­ert, das Leben in einem Ökodorf, denke ich. Aber das war ja nicht die Frage. Sondern: Ist das ein richtigere­s Leben im falschen? Beim CO2-Fußabdruck bestimmt. Und sonst so? Ich muss an den Film „Kein richtig falsches Leben“denken, den sie uns Schnuppis am Abend zuvor gezeigt haben. Eine Dokumentat­ion über das Ökodorf Sieben Linden. „Es braucht halt immer Leute, die sich diesem Abenteuer stellen“, sagte Regisseur Michael Würfel, der selbst in Sieben Linden lebt, am Ende. „Die fit genug sind, um sich vom Gemeinscha­ftsleben nicht umhauen zu lassen.“

Und ich muss daran denken, was Andreas gesagt hat, der vor vier Jahren mit seiner Partnerin ins Tonndorfer Schloss gezogen ist. „Wenn wir uns mal wieder über die Gemeinscha­ft ärgern, über eine dreckige Küche etwa, ist die Gretchenfr­age: Wie wäre es jetzt in einer Dreizimmer­wohnung in der Stadt – oder auf’m Land?“, sagte Andreas. „Die Antwort ist dann immer klar: Och nööö. Hier sind wir schon richtig.“

Die nächsten Schnupperw­ochen auf Schloss Tonndorf, für die noch Plätze verfügbar sind, finden vom 2. bis 7. Juni 2024 und vom 13. bis 18. Oktober 2024 statt. Weitere Informatio­nen und Anmeldung: www.schlosston­ndorf.de

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 ?? FOTOS: IMAGO/KH/THOMAS VICTOR/ MARKUS WANZECK ?? Schloss Tonndorf in Thüringen galt als sanierungs­reif: Im Jahr 2005 kauften 32 Leute, als Genossensc­haft organisier­t, das alte Gemäuer und hauchten ihm neues Leben ein. Zum Schlossgru­nd gehören noch 16 Hektar Land: Wald, Streuobstw­iesen mit Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbä­umen, Magerrasen, ein großer Gemüsegart­en. All das wird von den Bewohnerin­nen und Bewohnern gemeinsam gepflegt und bewirtscha­ftet.
FOTOS: IMAGO/KH/THOMAS VICTOR/ MARKUS WANZECK Schloss Tonndorf in Thüringen galt als sanierungs­reif: Im Jahr 2005 kauften 32 Leute, als Genossensc­haft organisier­t, das alte Gemäuer und hauchten ihm neues Leben ein. Zum Schlossgru­nd gehören noch 16 Hektar Land: Wald, Streuobstw­iesen mit Apfel-, Kirsch- und Pflaumenbä­umen, Magerrasen, ein großer Gemüsegart­en. All das wird von den Bewohnerin­nen und Bewohnern gemeinsam gepflegt und bewirtscha­ftet.
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FOTO: WANZECK Alle packen mit an: Gemeinsam geht’s zur Apfelernte.

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