Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Schatten der Vergangenheit
Dortmund dreht einen unfassbar schnellen 0:3-Rückstand und sammelt Selbstvertrauen
(SID/dpa/sz) - Am Ende der Achterbahnfahrt zwischen blankem Entsetzen und grenzenloser Erleichterung wusste kein Dortmunder Borusse so richtig, wie er mit den 94 verrückten Minuten in der norwegischen Provinz umgehen sollte. Die im Vergleich zum famosen Auftritt beim Bundesligaauftakt gegen Mönchengladbach (4:0) von Trainer Thomas Tuchel auf fünf Positionen veränderte Startelf offenbarte bei der historischen Aufholjagd beim 4:3 (1:3) bei Odds BK im Playoff-Hinspiel der Europa League längst überwunden geglaubte Schwächen in der Defensive. „Wir können jetzt nicht den Mantel des Schweigens über diese erste Halbzeit legen. Das war zwischenzeitlich ein Schockzustand“, sagte Sportdirektor Michael Zorc.
Nach dem Fehlstart stellte sich unter anderem die Frage nach der Einstellung der BVB-Profis, denn noch nie zuvor waren die Westfalen so schnell (22 Minuten) mit 0:3 in Rückstand geraten, das 0:1 war zudem das schnellste Gegentor (13 Sekunden) in bisher 213 EuropacupAuftritten. Das Missgeschick eines Gegentreffers in der 1. Minute war der Mannschaft in der vorigen Bundesliga-Saison gleich viermal passiert. Entsprechende Hinweise von Journalisten kommentierte Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke entnervt: „Ich verspreche Ihnen, dass Sie das in dieser Saison nicht mehr allzu häufig erleben werden.“
Tuchel bemühte sich, vor dem Bundesliga-Gastspiel am Sonntag (15.30 Uhr/Sky) beim Aufsteiger FC Ingolstadt vor allem die positiven Aspekte der ungewöhnlichen Dramaturgie hervorzuheben. Eine bessere erzieherische Maßnahme für seine Profis hätte sich Tuchel zu Beginn seiner Amtszeit kaum wünschen können: „Wir sind in der Lage, uns zu schütteln und mit Rückschlägen umzugehen. Insofern hatte die Partie etwas sehr Positives für die Entwicklung der Mannschaft.“
Die defensiven Aussetzer allerdings erinnerten an die vergangene Saison. Da hatte noch Jürgen Klopp an der Seitenlinie gestanden und oft ebenso verständnislos aus der Wäsche geblickt wie sein Nachfolger in Norwegen. Dank der Treffer von Pierre-Emerick Aubameyang (34./ 76.), Shinji Kagawa (47.) und Henrich Mchitarjan (85.) kam der BVB ungeschoren davon, aber die kurze Begegnung mit den Schatten der Vergangenheit machte Eindruck bei Tuchel: „Ich war entsetzt, wie einfach das ging, gegen uns Tore zu erzielen.“
„Das war ein Katastrophenstart, wie in einem schlechten Film“, befand Kapitän Mats Hummels. 5,7 Millionen Zuschauer sahen die AbwehrBlackouts daheim an den Bildschirmen und trauten vermutlich ihren Augen nicht. Der BVB war sich in der Anfangsphase auf ungewohntem Kunstrasen selbst der größte Gegner, bewahrte jedoch Ruhe und spielte nach der Pause seine spielerischen Qualitäten gegen die überforderten Gastgeber aus. 20:5 Torschüsse, viermal Latte oder Pfosten und eine große Anzahl bester Chancen kommentierte Tuchel so: „Wir hätten deutlich höher gewinnen können.“
Der Sieg, mit dem sich der BVB vor dem Rückspiel am Donnerstag (20.30 Uhr/ARD) die Tür zur Europa League öffnete, hatte jedoch auch zwei Verlierer: Gonzalo Castro und Roman Weidenfeller. Castro, für elf Millionen Euro von Bayer Leverkusen gekommen, ließ sich bei seinem 45-minütigen schwachen Startelfdebüt unter anderem beim 0:1 von einem 17 Jahre alten Greenhorn düpieren, Weltmeister Weidenfeller zementierte nicht nur beim 0:3 per Freistoß aus 30 Meter seinen Status als Nummer 2 hinter Roman Bürki.
Auch Ingolstadts Trainer Ralph Hasenhüttl hatte sich als Fernsehzuschauer verwundert die Augen gerieben. Hoffnung auf ähnliches Entgegenkommen des BVB am Sonntag macht er sich nicht. Schließlich habe der Donnerstagabend halt auch gelehrt, dass dem Gegner selbst ein 3:0Vorsprung nicht gereicht habe, um zu siegen. „Dortmund verfügt über unglaublich viel Offensiv-Potenzial“, schwärmte Hasenhüttl. „Ich sehe Dortmund ganz vorne. Vielleicht reicht es sogar für den Titel.“