Schwäbische Zeitung (Laupheim)
HDGDL, mein Augenstern!
Der Liebesbrief zwischen Romantik und digitaler Kommunikation
Gewiss liegen sie noch irgendwo. In einem Kästchen, in einem Koffer, zwischen den Seiten eines vergessenen Tagebuchs: Liebesbriefe, wahrscheinlich peinlich, die wir einst im Überschwang an den einen oder anderen Jugendschwarm schickten. Papier ist geduldig und hält oft länger als die Erinnerung. Mit welcher Inbrunst vor Jahrzehnten der Gatte um mich warb, das lässt sich anhand historischer Briefe lückenlos nachweisen. Wären wir berühmt, könnten sich die Forscher der Nachwelt mit dem Entziffernder krakeligen Handschriften verdient machen. So etwas taten sie jahrhundertelang, bis die Digitalisierung der Kommunikation allem Handschriftlichen und damit auch dem Quellenstudium den Garaus machte.
Der Liebesbrief von heute ist eine SMS mit Abkürzungen wie HDGDL (Hab dich ganz doll lieb), SIB (Schmetterlinge im Bauch) oder HASE (Habe Sehnsucht). Und sie verschwindet irgendwann wegen Lieblosigkeit aus dem Speicher. Das sah bei Goethe natürlich anders aus. Die sorgsam gesammelten Liebesbriefe des vergötterten Dichters an seine sieben Jahre ältere, verheiratete Herzensdame Charlotte von Stein sind in die Weltliteratur eingegangen, obgleich sie vielleicht ähnlich spontan verfasst wurden wie heute eine Kurznachricht über What’sApp. „Liebste, ich habe gestern Abend bemerkt, dass ich nichts lieber sehe in der Welt als Ihre Augen und dass ich nicht lieber sein mag als bei
Ihnen.“So schrieb Goethe 1778 kurz vor seinem 30. Geburtstag an die Weimarer Hofdame. An einem Gedicht hätte er sicher länger gefeilt.
„Der Liebesbrief“, stellte die Schweizer Sprachwissenschaftlerin Eva Lia Wyss beim Aufbau ihres wissenschaftlich fundierten Liebesbriefarchivs fest, „versagt vor dem Wunsch nach Originalität und Einmaligkeit“. Denn die Sprache der Liebe, erkannte die Expertin, sei „ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt“. An der Züricher Universität hat Wyss schon 1997 mit dem Forschungsprojekt begonnen, inzwischen lehrt die 53-Jährige an der Universität Koblenz-Landau, hat sich mit Kolleginnen aus Mainz und Darmstadt zusammengeschlossen, rund 10 000 Briefe und Kopien elektronischer Liebesbriefe gesammelt und fand doch nicht viel Neues unter der Sonne. Der Mann an sich, verriet sie erst kürzlich der Deutschen Presseagentur, sei „furchtbar emotional“. Einige, die sich so gar nicht beherrschen können, missverstehen den Sinn einer Liebesbotschaft und nutzen die Anonymität des Netzes für, wie die Forscherin es formuliert, „krude sexuelle Anmache“.
Da sollten sich die Herren mal ein Beispiel an Friedrich Schiller nehmen. Unser klassischer Freiheitsdichter war erotischen Abenteuern gewiss nicht abgeneigt. Er poussierte zugleich mit zwei adeligen Schwestern, Charlotte und Caroline (Lotte und Line) von Lengefeld. Man weiß nicht genau, was im flirrenden Sommer 1788 geschah, als der rebellische Literaturstar die Mädchen und ihre Mutter im Residenzstädtchen Rudolstadt besuchte. Fest steht aber, dass Schiller auch nach seiner offiziellen Verlobung mit Lotte weiterhin ebenso die ältere, bereits verheiratete Line begehrte. In einem berühmten Brief an beide Schwestern offenbarte er am 15. November 1789 seine heftigen Gefühle: „Nur in euch zu leben, und ihr in mir – o das ist ein Daseyn, das uns über alle Menschen um uns her hinwegrücken
mer Schiller nach der Hochzeit 1790 zu zähmen. Auch Kollege Goethe wurde vorübergehend ruhiger, nachdem er mit 39 Jahren die nicht ganz standesgemäße Christiane Vulpius, seine spätere Ehefrau, zu sich ins Haus nahm. Wie ein Brief von 1792 offenbart, war die Liebe zu der bodenständigen Mamsell und Mutter seines Sohnes August eher schlichter Natur: „Sei ein guter Hausschatz und bereite mir eine hübsche Wohnung. Sorge für das Bübchen und behalte mich lieb. Behalte mich ja lieb!“
Ja, wie sagt man es der Liebsten, wie trifft man den richtigen Ton? Auch in romantischeren Zeiten fehlten gelegentlich die Worte. Man bediente sich durchaus mal eines talentierten Beraters, eines Ghostwriters sozusagen. 1897 reüssierte der Franzose Edmond Rostand mit seinem sprachlich recht verschraubten Versdrama über „Cyrano de Bergerac“. Der Titelheld ist ein Dichter des 17. Jahrhunderts, der es wegen seiner unansehnlichen Nase nicht wagt, der schönen Roxane seine Liebe zu gestehen, und die passenden Briefe und Gedichte einem hübschen, aber fantasielosen Rivalen zur Verfügung stellt: „Ich bin dein Geist, du meine Wohlgestalt.“
So betrachtet, muss sich nicht genieren, wer in der Literatur oder in den unendlichen Weiten des Inter- nets nach sprachlichen Inspirationen sucht. Denn, Hand aufs Herz, auf Dauer lassen sich anspruchsvollere Naturen nicht von jenen elektronischen Herzchen oder Kuss-Smileys betören, die heutzutage massenhaft verschickt werden. Auch die trickreich getippte Rose mit einem @ als Blüte und einem Blätterstängel aus Bindestrichen und Haken, empfohlen von sms-gott.de, könnte unter Umständen einen schnellen Abschied provozieren. BBB heißt das dann – bye-bye Baby! Es geht eben nichts über einen individuellen Brief, „mit schmeichelnden Worten aufbereitet“, stellte schon der römische Erfolgsautor Ovid vor über 2000 Jahren fest. „Wie das Volk, der strenge Richter und der Senat, so wird auch das Mädchen sich der Beredsamkeit ergeben“, bemerkte Ovid in seiner Schrift von der „Ars amatoria“(Liebeskunst).
Um das begehrte Wesen möglichst schnell zu erreichen, nutzt der ungeduldige Mensch der Gegenwart die E-Mail. Tatsächlich werden, schätzen nicht nur die Forscher, mittlerweile die längsten Liebesbriefe auf technisch mühelose Art geschrieben und beliebig oft verändert, ehe mit einem Klick die Post abgeht. Wer diese Zeugnisse der Zuneigung allerdings wie früher bewahren will, muss am Ende ein rotes Bändchen um armselige Ausdrucke binden. Um wie vieles romantischer ist da ein von Hand beschriebenes Papier – auch, wenn die Schrift bisweilen schwankt und ein Schreibfehler nicht spurlos korrigiert werden kann! „Nimm den Stift zur Hand“, empfiehlt sogar das rein elektronisch funktionierende Frauenmagazin erdbeerlounge.de, und mahnt wohlmeinend: „Nimm dir Zeit und sei persönlich.“
Durch die eigene Handschrift adelt der oder die Verliebte sogar das geklaute Wort. Gewitzte Sprachdiebe setzen sich ihre Briefe aus verschiedenen Vorlagen zusammen: „Worte können nicht ausdrücken, was ich für Dich empfinde“(liebeskos
mos.de), „du schenkst mir die schönste Zeit meines Lebens“(meine-liebeser
klaerung.de), „es ist ein Wunder, dass
es dich gibt“(liebeundromantik.de). Dabei empfiehlt sich allerdings das Einfügen individueller Informationen. Könnte sonst sein, dass der Empfänger oder die Empfängerin das Klischee bemerkt und nur antwortet: Dubidodo – du bist doch doof.
Wie hast Du mir süß geschrieben, Du! Dein Brief war wie ein weiches Kosen
Deiner Hände. Die Malerin Paula Becker an ihren baldigen Ehemann Otto Modersohn, Dezember 1900 Jetzt gute Nacht, Luise, meine Luise! Dieser Name läuft wie
ein sanftes Echo ... durch mein Innerstes. So schreibt der Dichter Eduard
Möricke 1829 an seine zeitweilige Verlobte Luise Rau