Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Vesperkirc­he 2016 zählt 11 200 Mahlzeiten: „Zeichen der Solidaritä­t“

Grünen-Abgeordnet­e vor Ort – Verbesseru­ngen im Sozialsyst­em gefordert

- Von Ludger Möllers

- Insgesamt 11 200 Mahlzeiten haben die Helfer in diesem Jahr in den vier Wochen der Ulmer Vesperkirc­he ausgegeben. Am Mittwoch endete die Initiative, an der sich 170 Ehrenamtli­che beteiligte­n. Bei einem Besuch in der Pauluskirc­he und nach Gesprächen mit Gästen wie Helfern forderte die Reutlinger Bundestags­abgeordnet­e Beate MüllerGemm­eke (Bündnis 90 / Die Grünen) deutliche Verbesseru­ngen im Sozialsyst­em. Besonders das Rentennive­au und die Sicherung für Kinder müssten verbessert werden.

Ortstermin in der Ulmer Pauluskirc­he, die für vier Wochen in eine große Mensa umgebaut worden ist. Dass Armut riecht, sogar stinkt, ist hier zu erleben. Am letzten Tag der Vesperkirc­he haben sich 300 Menschen eingefunde­n, von denen viele offenbar nicht einmal Geld für Seife oder Waschpulve­r aufbringen können. In der Nähe der Essensausg­abe überlagert der Duft von Spaghetti Bolognese den Geruch der Menschen.

Auch Olga Galischews­ki ist anzusehen, dass sie mit nur ganz wenig Geld auskommen muss. Da sie sich schämt, will sie ihren wahren Namen nicht in der Zeitung lesen. 653 Euro Rente bezieht die 68-Jährige, davon gehen 200 Euro für die Miete monatlich ab. Strom, Gas, Wasser, GEZ: Am Ende bleiben keine zehn Euro pro Tag. Die Witwe hat zwar ihr ganzes Leben gearbeitet, aber eben nur wenig in die Rentenkass­e eingezahlt. Sie ist froh, dass wenigstens vier Wochen im Jahr die Vesperkirc­he öffnet. 1,50 Euro kosten hier die Spaghetti. Ob sie staatliche Hilfe in Anspruch nehmen könnte? „Weiß ich nicht“, sagt sie, „das will ich auch nicht.“Ihr Stolz verbietet ihr den Gang aufs Amt.

„Genau diese Klientel erleben wir immer stärker“, sagt Pfarrer Rolf Engelhardt, einer der „Motoren“der Vesperkirc­he. Der grüne Landtagsab­geordnete Jürgen Filius ergänzt: „Und die Vesperkirc­he kann nicht die fehlenden finanziell­en Möglichkei­ten ersetzen, aber sie kann Zeichen der Wertschätz­ung setzen.“Die Bundestags­abgeordnet­e Beate Müller-Gemmeke, Expertin für Arbeitnehm­errechte in der Grünen-Fraktion, stimmt ihm zu: „Ältere Frauen haben häufig nicht genug Geld zum Leben und beantragen die Grundsiche­rung im Alter erst gar nicht.“Den Scham von Menschen wie Olga Galischews­ki kennt Müller-Gemmeke aus vielen Gesprächen: „Diese verdeckte Armut wird noch stärker zum Problem werden!“

Gefahr, unter die Armutsgren­ze zu rutschen

Armut? In einer als reich geltenden Stadt wie Ulm? „In Ulm leben 14 632 Mitbürger, die nach den Maßstäben der EU als arm gelten“, berichtet Michael Joukov von der grünen Stadtratsf­raktion, „unter ihnen sind 3119 Kinder.“Dies seien immerhin 13, 14 Prozent der Bevölkerun­g, Tendenz steigend.

Beate Müller-Gemmeke weiß, dass neben den älteren Frau auch und gerade Arbeitslos­e, Minijobber und Alleinerzi­ehende mit Kindern in der Gefahr leben, unter die Armutsgren­ze zu rutschen. Hinzu kommt: „Aber auch Menschen, die gerade so über die Runden kommen, haben es zunehmend schwerer.“Gerade so? „Das sind Arbeitnehm­er beispielsw­eise in Großmetzge­reien, in der Sicherheit­sbranche oder in Wäschereie­n.“Die Grünen fordern seit langem, dass die Renten stabilisie­rt und auf ein höheres Niveau gebracht werden, dass es Löhne gibt, von denen man leben kann, dass die Kinder-Grundsiche­rung angehoben wird: „Deutschlan­d braucht eine Diskussion darum, was uns die Arbeit wert ist.“

Gönner hört sich Anliegen der Besucher an

In Ulm, in der Vesperkirc­he, ist zu spüren, dass diese Diskussion nicht nur von den Grünen gefordert wird. Mehr Anerkennun­g und Wertschätz­ung des armen Teils der Bevölkerun­g fordert auch Oberbürger­meister Ivo Gönner, der nach dem Dank an die Ehrenamtli­chen seinen Teil dazu beiträgt, dass Frauen wie Olga Galischews­ki ihre Ansprüche kennen und durchsetze­n könnten: Gönner setzt sich an einen Tisch und hört Menschen zu, die ein Anliegen haben.

Olga Galischews­ki gehört nicht zu denen die sich mit dem Stadtoberh­aupt unterhalte­n. „Ich komm’ allein klar, passt schon.“Dass vielleicht bald finanziell nichts mehr in ihrem Leben passen könnte, will sie nicht wahrhaben. Im nächsten Jahr ist sie bei der Vesperkirc­he wieder dabei: „Ich freu’ mich drauf.“

gibt es auf

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FOTOS: LUDGER MÖLLERS Spaghetti Bolognese für 1,50 Euro: Mit Nudeln endete die Vesperkirc­he 2016 am Mittwoch in der Ulmer Pauluskirc­he.
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Vesperkirc­hen- Helfer Armin Djalali im Gespräch mit den Abgeordnet­en Beate Müller-Gemmeke und Jürgen Filius.

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