Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Viele Unterschiede – und fundamentale Gemeinsamkeiten
Die Bundestagsabgeordneten Agnieszka Brugger (Grüne) und Roderich Kiesewetter (CDU) über die Flüchtlingspolitik
- Die Flüchtlingspolitik – selten war ein Thema so umstritten in Deutschland. Die Sorge, dass weitere Millionen Flüchtlinge kommen und Deutschland davon überfordert sein könnte, treibt viele Menschen um. Dabei werden die Fluchtursachen oft ausgeblendet. Die „Schwäbische Zeitung“hat mit den Bundestagsabgeordneten Agnieszka Brugger aus Ravensburg (Grüne) und Roderich Kiesewetter aus Aalen (CDU) darüber gesprochen, was passieren müsste, damit sich die Lage in den Konfliktregionen entspannt, und welche Rolle die Europäische Union dabei spielt. Die Fragen stellten Hendrik Groth, Claudia Kling und Christoph Plate.
Die Grünen haben in der vergangenen Woche dafür gestimmt, den Bundeswehreinsatz in Mali zu verlängern, den Syrieneinsatz hingegen lehnen sie ab. Warum eigentlich, Frau Brugger?
Brugger: Unsere Leitlinien bei der Entscheidung über Militäreinsätze
ANZEIGE sind Fragen wie: Gibt es eine politische Strategie, was soll nach dem Militäreinsatz kommen und wie sieht die völkerrechtliche Legitimation aus? Bei Syrien hat uns eine Antwort darauf gefehlt. Das Mandat ist unserer Meinung nach sehr vage, es lässt sich keine klare Gesamtstrategie erkennen und es fehlt eine tragfähige völkerrechtliche Grundlage.
Und diese Voraussetzungen sind beim Einsatz in Mali erfüllt?
Brugger: In Mali gibt es durchaus eine politische Strategie. Die Vereinten Nationen versuchen, unterstützt von der Friedensmission Minusma, ein Waffenstillstands- und Friedensabkommen umzusetzen. Mali steht an einer Weggabelung, und die Internationale Gemeinschaft und auch Deutschland sollten alles dafür tun, dass es gelingt, diese Abkommen umzusetzen. Dann gibt es eine Chance auf Sicherheit und Stabilität in diesem Land.
Wie sehen Sie das, Herr Kiesewetter?
Kiesewetter: Den Syrieneinsatz unterstützen wir in der Union in vollem Umfang. Ich sehe Mali allerdings in anderer Hinsicht kritisch. Dort wird ein Symptom bekämpft, dessen eigentliche Ursache die vielen Waffen aus Libyen sind. Das heißt: Auch wenn wir um Libyen herum relative Stabilität schaffen – in Mali, im Su- dan, im Südsudan – bleibt das Problem Libyen. Deshalb bereiten wir uns im Bundestag auf ein Engagement dort vor. Der entscheidende Punkt für mich ist aber, dass wir in Konfliktregionen die einzelnen Länder nicht zu isoliert betrachten dürfen. Rein militärisch lassen sich die Probleme weder in Mali noch in Sy- rien lösen. Es geht schließlich auch um Demografieprobleme, Verteilungskonflikte und Umweltprobleme.
Wie nahe stehen wir vor einem Einsatz in Libyen?
Kiesewetter: In Libyen und Tunesien gibt es mehr als zwei Millionen Menschen, die nach Europa streben. Weitere 15 Millionen aus den südlicheren Ländern Afrikas sind auf dem Weg dorthin. Der sogenannte Islamische Staat beherrscht inzwischen in Libyen eine Fläche von 60 000 Quadratkilometern, und die USA wollen die Terrormiliz durch einen Eingriff von außen stoppen. Deshalb braucht es meiner Meinung nach schnell ein UN-Mandat, um die Konfliktparteien zu entwaffnen, die Waffenausbreitung zu stoppen und um Schutzzonen für Flüchtlinge schaffen zu können. Vorrangig sollte sich dort die EU engagieren. Brugger: Ich habe den Eindruck, dass Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Libyen jetzt voreilig ins Gespräch gebracht hat, um ihre Forderung nach 130 Milliarden Euro in den nächsten 15 Jahren für Rüstungsprojekte zu untermauern. Die Lage in Libyen ist doch extrem unklar, welche Milizen sollen wir denn dort überhaupt verantwortlich ausbilden? Die große Lehre aus dem letzten Libyen-Fiasko muss doch sein, dass Militäreinsätze ohne eine tragfähige politische Lösung zu scheitern drohen und im schlimmsten Fall die Situation verschärfen. Kiesewetter: Was sind die Alternativen? Wir haben in Libyen zwei Millionen perspektivlose Flüchtlinge und einen IS, der die Staatlichkeit bedroht und hochattraktiv ist für viele junge Kämpfer aus den Nachbarländern. Der IS kann sich schnell nach Tunesien ausbreiten, das müssen wir verhindern. Noch ein Satz zu den 130 Milliarden Euro: Ministerin von der Leyen hat nach einer Bestandsaufnahme festgestellt, dass viele Rüstungsprojekte unterfinanziert sind und sie zur Beseitigung der Defizite in der Bundeswehr 130 Milliarden braucht. In den vergangenen Jahren, als wir von Freunden und Partnern umgeben waren, wurden im Verteidigungshaushalt Milliarden eingespart, das rächt sich jetzt.
Was erwarten Sie sich von dem Einsatz in Syrien? Dort ist die Lage doch noch vertrackter als in Nordund Westafrika.
Kiesewetter: Das stimmt, die Gemengelage ist schwieriger, weil die klassischen Akteure vor Ort – Assad, Saudi-Arabien und Iran – zusätzlich Schwierigkeiten machen. Assad hat zudem keine großen Befugnisse mehr im eigenen Land. Dazu kommt, dass Russland mit seinem Engagement die Flüchtlingskrise noch weiter anheizt. Ich halte den Einsatz dort auch ohne UN-Mandat für sinnvoll, weil Frankreich auf der Grundlage des Lissabon-Vertrages um Unterstützung gebeten hat. Auf der Europäischen Union lastet jetzt aber der Druck der Amerikaner, die weitere Ausbreitung des IS zu verhindern. Dazu braucht es eine neue Strategie der Europäer.
Wie sollte die aussehen? Die Europäische Union zeigt sich doch nicht einmal in der Frage der Verteilung von Flüchtlingen handlungsfähig?
Kiesewetter: Das kann nur in einem diplomatischen Prozess erreicht werden, aber es ist schwierig, weil die Europäische Union zwar auf einer brauchbaren, aber schwachen rechtlichen Basis steht. Dazu kommen die Zerfaserungs- und Renationalisierungstendenzen in den Mitgliedsländern, die den Zusammenhalt weiter schwächen. Wenn die Europäische Union die Flüchtlingskrise nicht aushält – ob das passiert, werden wir beim EU-Gipfel in zwei Wochen sehen – macht sie sich vollkommen unglaubwürdig. Und dann gibt es auch keinen Rückhalt mehr für den Militäreinsatz in Syrien.
Sind Sie sich denn sicher, dass wir in einem halben Jahr noch dieses Europa haben?
Kiesewetter: Die Wendemarke wird, wie gesagt, der kommende Gipfel sein. Ich sehe Europa vor dem Scheideweg und hoffe, dass Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Italien, Frankreich und Deutschland in der Lage sind, diese Krise durch ein Europa der zwei Geschwindigkeiten zu überwinden. Das bedeutet, dass wir in einem Kerneuropa schneller vorangehen. Wenn es uns dann nicht gelingt, weitere wichtige Integrationsschritte zu machen, wird das Konstrukt Europa sehr instabil wer- den und ein leichtes Opfer für russische Zersetzungsversuche sein. Brugger: Auch ich blicke mit Sorge auf die vielen negativen Schlagzeilen in Großbritannien, Polen und Ungarn. Auf der anderen Seite liegt es auch an uns Politikern, den Bürgern besser zu erklären, dass das kurzfristige Durchsetzen von nationalen Interessen am Ende einen sehr hohen Preis hat, den niemand zahlen will. Ich hoffe, dass sich diese Einsicht auch bei den Regierungschefs der EU noch durchsetzt.
Wenn die internationale Koalition gegen den IS erfolgreich sein will, braucht es dann nicht auch internationale Bodentruppen, um Syrien zu befrieden?
Kiesewetter: Ich gehe zwar von einem längerfristigen Engagement in Syrien aus, allerdings ohne europäische Bodentruppen. Internationale Bodentruppen mit europäischer Beteiligung sollten nur zum Schutz von UN-Flüchtlingslagern eingesetzt werden. Brugger: Aber das ist derzeit noch ferne Zukunft. Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, den Herr Kiesewetter angesprochen hat. Mein großes Problem mit diesem Einsatz ist auch die Frage, wie man mit Assad umgeht. Da gibt es bislang keine Einigung auf europäischer Ebene. Frankreich beispielsweise hält den sogenannten Islamischen Staat für das größte Problem und ist bereit, sich notfalls mit Assad zu arrangieren. Ich dagegen halte es für brandgefährlich, den syrischen Machthaber für das kleinere Übel zu halten. Für mich ist Assad ein Massenmörder, mit dem es keine Zukunft in Syrien geben kann.
In Deutschland wird viel über die syrischen Flüchtlinge hierzulande gesprochen. Die Situation der Nachbarländer Syriens, die sehr viele Menschen aufgenommen haben, steht im Schatten des öffentlichen Interesses. Könnte uns das auf die Füße fallen?
Kiesewetter: Die Stabilisierung von Libanon und Jordanien und der beginnende Bürgerkrieg in der Türkei sind Kernfragen in diesem Konflikt. So wie wir jetzt als EU mit der Türkei verhandeln, um Lösungen zu finden, müssen wir auch den beiden anderen Ländern etwas anbieten: Grenzsicherung, Gesundheitsversorgung und Bildung in den Flüchtlingslagern. Es wäre durchaus denkbar, dass die Europäische Union auch die Grenzen dieser Staaten schützt, wenn sie es wollen. Es wäre übrigens auch im Interesse Israels, wenn Libanon und Jordanien nicht zerfallen. Brugger: Ich halte es für eine Schande, dass es diese reiche Welt bislang nicht geschafft hat, die Versorgung der Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens sicherzustellen. Es ist unfassbar, dass jedes Jahr im Herbst die Nahrungsmittelrationen gekürzt werden mussten, weil die Mittel nicht ausreichten. Jeder vierte Mensch im Libanon ist mittlerweile ein Flüchtling. In einem Land, das bei Weitem politisch nicht so stabil und nicht so wohlhabend ist wie die europäischen Staaten. Da laufen wir se- henden Auges in die nächste Katastrophe, wenn man zulässt, dass der Libanon destabilisiert wird. Dann werden noch mehr Menschen nach Europa fliehen.
Über was für einen Zeitraum reden wir eigentlich, wenn wir über eine Lösung der Syrienkrise sprechen?
Brugger: Das muss man ganz klar sagen: Im besten Fall reden wir über einen Zeitraum von zehn Jahren. 2012, als die Krise in Mali eskaliert ist, haben viele Regierungsvertreter illusorisch von zwei Jahren gesprochen. Vergangene Wochen haben wir den Einsatz wieder verlängert. Solche Konflikte wie in Mali und in Syrien lassen sich nicht militärisch lösen. Entscheidend sind der zivile Aufbau und das Bearbeiten der Konfliktursachen – und das ist ein langwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang. Kiesewetter: Man müsste schon Nostradamus sein, um darauf eine Antwort zu haben. Wir sollten uns in Deutschland darauf einstellen, dass wir den Flüchtlingen, so lange sie hier sind, Geborgenheit und Perspektiven für eine rasche Eingliederung bieten. Auf der anderen Seite sollten wir alles dafür tun, die Flüchtlingslager in den Nachbarländern Syriens ausreichend zu finanzieren. Dort müssen Strukturen und Wertschöpfungsketten geschaffen werden, die den Menschen eine geregelte Tagesstruktur mit sinnvollen Beschäftigungen ermöglichen. In der Südosttürkei gibt es ein Lager, wo Frauen zu Friseurinnen, Schneiderinnen oder Teppichknüpferinnen ausgebildet werden, die Männer organisieren die Bazare, die Kinder gehen zur Schule. Solche Aufnahmeeinrichtungen in den Heimatregionen brauchen wir. Dann lässt auch das Streben nach Europa nach.
Hat der militärische Einsatz in Syrien nicht auch Symbolcharakter: Deutschland zeigt Solidarität mit Frankreich, das vom IS angegriffen wurde.
Brugger: Es war für uns Grüne bei der Debatte über den Einsatz ein sehr gewichtiges Argument, Solidarität mit Frankreich zu zeigen. Aber am Ende kamen wir zu dem Schluss, dass der Einsatz in seiner jetzigen Form die große Gefahr birgt, kontraproduktiv zu sein. Kiesewetter: Ich sehe das anders. Die Lage in Syrien hat sich verändert durch das russische Eingreifen. Putins Ziel ist es, sein international ge- schwächtes Renommee aufzubessern und eine Lösung mit Assad zu finden. Diese Rechnung geht aber nicht auf, weil am Ende Neuwahlen stehen müssen. Unser deutsches Interesse sollte zweierlei sein. Wir müssen es schaffen, eine gemeinsame europäische Linie bei den Verhandlungen zu vertreten, und es muss uns gelingen, Russland so einzudämmen, dass Putin nicht ständig gegen den Zusammenhalt in der Europäischen Union agieren kann. Sein Interesse ist es nachzuweisen, wie handlungsunfähig die EU ist. Das gelingt ihm über seine Netzwerke, die von extremen Russlanddeutschen bis zum Front National in Frankreich reichen, derzeit ganz gut. Das aufzubrechen ist noch viel schwieriger als eine diplomatische Lösung für Syrien zu finden.
In vielen außenpolitischen Fragen scheinen Sie ja gar nicht so weit voneinander entfernt zu sein.
Brugger: Klar, in der Außenpolitik gibt es viele gemeinsame Punkte, aber auch viel Uneinigkeit, Stichwort: Rüstungsexporte. Die CDU vertritt eine Rüstungsexportpolitik mit Blick auf die heimische Wirtschaft und nicht mit Blick auf die Lage der Menschenrechte in den Staaten, die die Waffen kaufen. Bei so einer Politik ist die Gefahr groß, dass diese Waffen in den falschen Händen landen und niemand mehr kontrollieren kann, was mit ihnen passiert. Herr Kiesewetter hat das dramatische Beispiel Libyen ja bereits angesprochen. Außerdem würde ich mir wünschen, dass die Worte, die Roderich Kiesewetter gerade zur Flüchtlingsfrage gesagt hat, auch bei der Schwesterpartei CSU endlich Gehör finden würden. Da gibt es fundamentale Unterschiede. Wie Schwarz und Grün zusammengehen könnten, kann ich mir deshalb nur schwer vorstellen. Kiesewetter: Natürlich gibt es wenige Berührungspunkte mit den Grünen. Aber da, wo es sie gibt, ist es mit ihnen hochvernünftig. Ich finde, demokratische Parteien müssen in der Lage sein, nicht nur miteinander zu reden, sondern auch, wenn es darauf ankommt, zum Wohle des Landes zu kooperieren. Von den Grünen trennen uns ja keine fundamentalen Unterschiede wie von den Linken, die ich übrigens ähnlich kritisch sehe wie die AfD. Agnieszka Brugger und ich kennen uns seit 2009, wir haben voneinander gelernt und profitiert, das ist doch entscheidend.