Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Das Dach kommt weg
Rechtschreibreform in Frankreich: „Accent circonflexe“wird ausgemustert – teilweise
- Es ist nur ein kleines Dach, doch es erregt die Gemüter: Mit der Rechtschreibreform in Frankreich soll der Zirkumflex teilweise wegfallen, jener Akzent also, der auf den Vokalen sitzt. Nach den Sommerferien soll die Rechtschreibreform in französischen Schulbüchern umgesetzt werden. Die Änderungen stoßen bei vielen allerdings auf heftigen Widerstand.
Beschlossen hatte die eingeschränkte Nutzung des „accent circonflexe“die Wächterin über die Sprache, die Académie française, schon 1990. Doch in die Schulbücher soll die neue Rechtschreibung erst zum Schulbeginn nach den diesjährigen Sommerferien Einzug halten, wie die Verlage vor Kurzem entschieden.
Aus der „maîtresse“, der Lehrerin, soll dann die „maitresse“ohne den markanten Winkel werden. Eine kosmetische Veränderung, die vielen Pädagogen missfällt. „Es gibt Änderungen, die mir in der Seele wehtun, zum Beispiel die neue Schreibung des Wortes ‚maitresse‘“, sagt eine Lehrerin im Fernsehen. Ihre Kollegin ist da anderer Meinung: „Ich bin für alles, was den Kindern die Rechtschreibung erleichtert.“
Vom „Tod des Circonflexe“, den einige Medien schon herbeischreiben, kann allerdings keine Rede sein. Der „chapeau“, wie die Franzosen den Zirkumflex nennen, bleibt auf dem a, dem e und dem o erhalten und wird nur auf dem i und u gestrichen. Und das auch nicht immer: die Mauer „mûr“führt weiter einen Akzent, um den Unterschied zu „mur“zu markieren, was „reif“bedeutet. Und Namen wie „Jerôme“werden sowieso nicht angetastet.
Bindestrich fällt häufig weg
Ohnehin ist die alte Schreibweise parallel weiterhin erlaubt. Auch Marcel Proust muss nicht umgeschrieben werden: Die Änderung, die rund 2400 Wörter betrifft, gilt nur für die Schulbücher. Neben dem Zirkumflex soll auch der Bindestrich häufig wegfallen. So wird das „Portemonnaie“künftig in einem geschrieben statt in zwei Wörtern mit Bindestrich. Außerdem werden bestimmte Wörter vereinfacht: Aus der Zwiebel, bisher „oignon“, soll nun „ognon“werden. Und die Seerose „nénuphar“verändert sich zu „nénufar“.
Die Gelehrtengesellschaft der Académie française hatte die Ände- rungen 1990 mit einer Entwicklung der Sprache begründet, wie sie auch in den Nachbarländern üblich sei. Es sei wichtig, die Rechtschreibung mit „dosierten und kohärenten Berichtigungen anzupassen, die ihre Nut- oilà, die Franzosen wollen ernst machen mit ihrer Rechtschreibreform. Das ist nicht ganz abwegig bei einer Sprache, in der etwa der Laut (wie in unserem
oder mit den verschiedensten Buchstabenfolgen wiedergegeben werden kann:
Aber weil die Franzosen selbst groß sind, sollten wir uns diesseits des Rheins mit Kommentaren zurückhalten. Angemerkt sei allerdings: Die Rechtschreibreform, die bei uns 2006 mit Hängen und Würgen abgesegnet wurde, bietet dem Nachbarn Beispiele zuhauf, wie man es nicht machen sollte. Dass man heute schreibt statt
nur weil die Älpler sagen, verstehe, wer will. Dem früheren kam – weshalb auch immer – hinten das abhanden. Warum man bei unserem keine klare Lösung fand (entweder ganz abschaffen, oder zusätzlich ein großes
statt einführen), ist eine Unge- zung sicherer machen“, hieß es damals. Die renommierte Akademie, der namhafte Schriftsteller angehören, sparte nicht mit Kritik am Zirkumflex: der „chapeau“sei eine „große Schwierigkeit der französischen reimtheit. Und statt wie im Englischen zu schreiben, haben wir heute die Wahl zwischen
oder Womit wir beim Hauptproblem sind: der Wahlfreiheit. Über alle strittigen Fälle bei der Reform befand der Rat für deutsche Rechtschreibung mit seinen 40 Mitgliedern aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein, Italien (Südtirol) und Belgien. Nun hätte es die vatikanische Lösung gegeben: wie bei der Papstwahl die Türe verriegeln und erst wieder öffnen, wenn weißer Rauch aufsteigt. Aber nein, bei Uneinigkeit entschied man sich stets zur Variantenschreibung, bis sich eine Präferenz für eine Schreibweise erkennen lässt. Ein Beispiel für das daraus resultierende Durcheinander soll hier genügen: Bei Formen wie Rechtschreibung“. Sogar Gelehrte hätten Schwierigkeiten, den Akzent zu setzen, der „willkürlich und unzusammenhängend“gebraucht werde. Ein Trost für viele Schüler, die an dem „Dach“verzweifelten. und verbindlich
schreiben wir klein; bei und ist das verbindlich groß; die Wahl haben wir bei der oder bei der oder sowie bei dem oder Wenn einem da nicht grün wird vor Augen. Sprachwissenschaftler mögen spitzfindige Erklärungen für solche Unterscheidungen parat haben, an der Allgemeinheit der Schreiber aber geht das völlig vorbei. Die Qual der Wahl verunsichert zutiefst und – viel schlimmer noch – sie verleitet zu einer Gleichgültigkeit, die leicht in Willkür umschlagen kann. Da schreibe ich doch gleich, wie ich will … Von Wahlfreiheit ist nun auch in Frankreich die Rede – mal mit Dächle, mal ohne Dächle. Zwar lässt sich Sprache mit Logik nicht fassen, aber um klare Regeln kommt man nicht herum. ist seit Jahrhunderten ein Schlüsselbegriff des französischen Geisteslebens. Die ist nun gefragt. Allons enfants!
Doch die gut gemeinte Geste stößt nun auf starken Widerstand vor allem in konservativen Kreisen, die den Niedergang der französischen Sprache befürchten. „Die Regierung ermutigt uns zur Mittelmäßigkeit, statt die Schönheit der französischen Sprache aufzuwerten“, kritisiert der konservative Europaabgeordnete Eric Ciotti die regierenden Sozialisten.
Nicht konsequent umgesetzt
Dabei waren es gerade die Konservativen gewesen, die 2008 die Umsetzung der Reform beschlossen hatten. Die Entscheidung fiel allerdings damals nur auf dem Papier und hatte keine Auswirkung in den Klassenzimmern. Sie wurde nicht konsequent umgesetzt.
„Die Rechtschreibung anzugehen, bedeutet die eigene Kindheit anzugehen. Das weckt den Schmerz, die Anstrengung, die Siege beim Lernen der Regeln“, erklärt der Vorsitzende der staatlichen Schulgewerkschaft SNE, Pierre Favre, in der Zeitung „Le Parisien“die heftigen Reaktionen.
Beim Microbloggingdienst Twitter fand sich bereits eine Menge Menschen zusammen, die den vom Aussterben bedrohten „accent circonflexe“in den Weiten des Netzes verteidigt. Das Stichwort lautet in – einigermaßen unpassender – Anlehnung an die Solidaritätsbewegung für die Opfer der Terroranschläge in Paris #JeSuisCirconflexe.