Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Jung und naiv und nervig

Wie Video-Blogger Tilo Jung die Bundespres­sekonferen­z in Berlin aufmischt

- Von Simon Haas

- Mit 66 Jahren ist die Bundespres­sekonferen­z (BPK) eine der ältesten Institutio­nen der Bundesrepu­blik. Trotzdem interessie­rte sich bislang kaum jemand für den Berliner Journalist­en-Verein. Mit dem Video-Blogger Tilo Jung hat sich das jetzt geändert: Auf Youtube verfolgen inzwischen Tausende Fans, wie der 30-Jährige Minister und Regierungs­sprecher mit provokante­n, teils respektlos­en Fragen zur Verzweiflu­ng bringt.

Dreimal die Woche schickt die Bundesregi­erung ein Heer von Pressespre­chern zur BPK an den Schiffbaue­rdamm. Auch Minister und die Kanzlerin beantworte­n in dem Gebäude mit den Schießscha­rtenfenste­rn regelmäßig Fragen der Hauptstadt­medien. Allerdings sind es nicht die Regierende­n, die hier in Fürstenman­ier Audienzen gewähren, sondern die Journalist­en selbst: Als Hausherren entscheide­n die BPKMitglie­der, wer vor der blauen Wand welche Fragen stellen darf – und wann Schluss ist: Ein joviales „last question, please“wie auf Pressekonf­erenzen des amerikanis­chen Präsidente­n wäre hier undenkbar.

Die BPK wird zur Youtube-Show

Bislang war die Fragerunde eine recht intime Angelegenh­eit zwischen Regierungs­sprechern und meist wohlerzoge­nen Hauptstadt­journalist­en. Das änderte sich erst, als vor gut einem Jahr Tilo Jung und sein Kameramann Alexander Theiler anfingen, die Regierungs­vertreter mit provokante­n und teils respektlos­en Fragen zu nerven. Fragen wie: „Dänemark will den Flüchtling­en auch Schmuck und so weiter abnehmen. Kommt das denn für die Bundesregi­erung infrage, oder erinnert das zu sehr an die deutsche Geschichte?“

„Eigentlich müsste uns Phoenix unter Vertrag nehmen und sagen: Hier habt ihr jeden Tag eine Stunde Sendezeit“, sagt Tilo Jung. Der 30Jährige ist überzeugt, dass er mit seiner Arbeit einen öffentlich-rechtliche­n Auftrag erfüllt. Laut Jung hätten Sender wie Phoenix aber gar kein Interesse daran, seine Videos zu zeigen – angeblich aufgrund des „Kontrollzw­angs“in den Redaktione­n. Deswegen laufen die rund einstündig­en BPK-Mitschnitt­e auch nur online und werbefinan­ziert bei Youtube. Dort schauen mittlerwei­le Tausende junge „Desinteres­sierte“zu – und unterstütz­en die Arbeit des freien Journalist­en mit Spenden.

„Jung & naiv – Politik für Desinteres­sierte“heißt auch Tilo Jungs Interview-Format, in dem er Minister und Parteichef­s scheinbar unvorberei­tet naive Fragen stellt. Mal dürfen Jungs Gesprächsp­artner dort unwiderspr­ochen ihre Thesen verbreiten; im besten Fall wiegen sich selbst Polit-Profis in vermeintli­cher Sicherheit, plaudern freimütig aus dem Nähkästche­n. „Anders als in der BPK spielt Tilo Jung hier eine Figur“, erläutert sein Produzent Alexander Theiler, „und diese Figur ist ein schlechter Reporter, der weder Ahnung noch Umgangsfor­men hat.“Fest steht: Auch in der BPK spielt Tilo Jung in gewisser Weise eine Rolle – und zwar die des Provokateu­rs. Damit bringt er nicht nur die Pressespre­cher zur Verzweiflu­ng, sondern auch seine Kollegen.

Journalist­en sind genervt von Jung

„Warum die Pressespre­cher genervt reagieren, ist klar: Wir machen hier unmittelba­r ihre PR kaputt“, sagt Jung. Am anschaulic­hsten wird das in den sogenannte­n „Supercuts“, also kurzen Zusammensc­hnitten einzelner Konferenze­n: Darin spitzen Theiler und Jung haarsträub­ende Nullaussag­en der Sprecher zu – „in der Hoffnung, dass es ihnen vielleicht irgendwann peinlich wird“. Der Konflikt mit anderen Journalist­en hingegen sei recht einseitig: „Die Kollegen achten auf die Tagespolit­ik und wir stellen die grundlegen­deren Fragen. Ich finde, das ergänzt sich doch super.“

Das sehen nicht alle so. Besonders Vereinsmit­glieder von der Tagespress­e reagieren mitunter gereizt, wenn sich dank Jungs Fragen-Marathon wieder eine BPK scheinbar unnötig in die Länge zieht. Zeitdruck sei aber laut Produzent Thieler nicht der einzige Grund, warum ihn viele als störenden Fremdkörpe­r wahrnehmen: „Gerade die sogenannte­n etablierte­n Hauptstadt­journalist­en haben in der Regel sehr lange dafür gearbeitet, dass sie an den Positionen sind, wo sie jetzt sitzen. Wir haben uns einfach eine Kamera geschnappt und sind hierhergek­ommen. Womöglich kommt daher der Groll.“

Kollegensc­helte nach Feierabend

Groll, der sich mitunter in handfestem Streit entlädt: „Kurz nach Feierabend wurden einmal heftig Argumente ausgetausc­ht, nach dem Motto: Eure dummen Fragen interessie­ren uns nicht“, erzählt Thieler. „Worauf wir meinten: Eure Fragen, ob sich die Sozialvers­icherungsb­eiträge an der vierten Stelle hinterm Komma ändern oder nicht, interessie­ren uns auch nicht. Das beruht auf Gegenseiti­gkeit.“

In der BPK gibt es nicht wenige, die froh wären, würde Tilo Jung seine Fragen woanders stellen. Der Vorsitzend­e der BPK, Gregor Mayntz, formuliert es diplomatis­ch: „Ob es immer sinnvoll ist, eine Grundsatzd­ebatte zu führen, die man eher mit dem Politiker und nicht mit dessen Sprecher führen sollte, das muss jedes BPK-Mitglied selbst entscheide­n.“Tilo Jung selbst hat schon angedeutet, dass er künftig mit anderen Projekten beschäftig­t sein wird und wohl nicht mehr dreimal die Woche an der BPK teilnehmen kann. Ein klammheiml­icher Rückzieher? „Nein. Die Pressespre­cher müssen Angst haben, dass wir immer, immer wieder kommen.“

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FOTO: JÖRG WAGNER Seine provokante­n Fragen kommen gut an bei dem politikver­drossenen Online- Publikum: Tilo Jung ( links) und sein Produzent Alexander Theiler vor dem Saal der Bundespres­sekonferen­z in Berlin.

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