Schwäbische Zeitung (Laupheim)
„Wir ersticken in Bürokratie“
Flüchtlingshelfer aus dem Landkreis Ravensburg geben Justizminister Stickelberger viel Kritik mit auf den Weg
- SPD-Justizminister Rainer Stickelberger hat im Baienfurter Speidlerhaus den geballten Frust von gut 70 ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern aus dem Landkreis Ravensburg abbekommen.
Viele Menschen, die sich vor Ort in der Flüchtlingshilfe engagieren, sind aufgebracht, fühlen sich von den Behörden allein gelassen und sind häufig mit ihrem Latein am Ende. „Wir ersticken in Bürokratie“, kritisierte etwa eine Ärztin. Viele Asylsuchende kämen nicht nur traumatisiert, sondern zudem noch mit schweren Verletzungen oder Magengeschwüren in Deutschland an. Dann freilich müssten sie ewig auf ärztliche Behandlung warten und seien außerstande, die entsprechenden Unterlagen zu verstehen.
Auch andere Ehrenamtliche forderten arabisch sprechende Dolmetscher, da nur wenige Flüchtlinge Englisch könnten, oft sogar Analphabeten seien. Man müsse solche Mitbürger aktivieren, auch wenn sie kein offizielles Zertifikat besitzen. Weiterer Kritikpunkt: „Der Staat versagt“, weil er nicht genügend Klassen und Kindergartengruppen zur Verfügung stelle, in denen Flüchtlingskindern Deutsch beigebracht wird.
Dem hielt Stickelberger entgegen, das Land stelle dafür zwar mehr Lehrerstunden zur Verfügung – allein es fehlten die Pädagogen. Die Landesregierung habe diesbezüglich sogar pensionierte Lehrer angeschrieben, um sie für diese spezielle Aufgabe zu gewinnen. Auch sonst hatte Stickelberger nicht die schnellen, pragmatischen Lösungen parat, die sich die Ehrenamtlichen wünschen.
Auch in Stuttgart „sind wir oft mit Überraschungen konfrontiert“– wenn etwa 700 statt wie angekündigt 200 neue Asylbewerber ankämen. Deren wirkliche Integration stehe in der Tat noch aus, so der Justizminister: „Das wird uns über Jahre fordern“– zumal er davon ausgeht, dass viele, die keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, dagegen klagen werden.
Dem Vorwurf, dass viele Flüchtlinge „teilweise eineinhalb Jahre lang in der Schwebe hängen, ohne Anhörung, ohne Bescheid und ohne zu wissen, was aus ihnen wird“, konnte Stickelberger nicht viel entgegensetzen. Ein Flüchtlingshelfer wurde deutlich: „Wir bekommen keine Antworten, der Behördenfluss liegt im Argen.“Auch dem Justizminister ist klar, dass die Verfahren momentan viel zu lange dauern – es fehlt, so sagt er, an (geschultem) Personal. Die nicht nur von Baienfurts Bürgermeister Günter A. Binder aufgestellte Forderung, die Finanzierung, „die nicht immer dem Bedarf der Helferkreise vor Ort gerecht werde“, müsse auf andere Füße gestellt werden, nimmt Stickelberger ebenfalls mit in die Landeshauptstadt.
Kritik am Landratsamt
Binder hatte zudem bemängelt, dass man vor Ort „ohne die bürokratischen Hindernisse“seitens des Landratsamts „freier agieren“könnte. Was viele Flüchtlingshelfer bestätigten – mit fassungslosem bis verärgertem Unterton. So kann ein Ravensburger nicht verstehen, warum das Landratsamt einer Flüchtlingsfamilie, für die er eine Wohnung organisiert hat, dort nicht hinziehen darf, sondern weiterhin in der Burachhalle bleiben muss. „Das Landratsamt wirft uns Steine in den Weg.“Während die vielen Vorschriften den ohnehin schon leidgeplagten Asylsuchenden weiter zusetzten.
Was den Helfern darüber hinaus aufstößt: Wer mit Flüchtlingen etwas unternimmt, ist in bestimmten Situationen versicherungsrechtlich nicht geschützt: „Wir Helfer bewegen uns da im rechtsfreien Raum“, gab ein Ehrenamtlicher zu bedenken. Den meisten Beifall gab es für den Hinweis einer Helferin, die anprangerte, dass die eigentlichen Fluchtursachen „von Berlin aus nicht angegangen werden“.
Nach genau zwei Stunden, die Stickelberger sich Zeit genommen hatte, wurde das „Brezelfrühstück“beendet.