Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Der Davoser kehrt heim

Schreinerm­eister Paul Ardüser besinnt sich auf eine alte Tradition und baut wieder Schlitten

- Von Simone Haefele

Wer hat’s erfunden? Die Schweizer. Na ja. Nicht ganz. Denn natürlich haben nicht erst die Eidgenosse­n das Schlitteln entdeckt. Schon Plutarch will beobachtet haben, wie die alten Germanen auf einem Untersatz im Schnee zu Tale gerutscht sind. Und in Skandinavi­en war ein Schlitten vermutlich schon Transportm­ittel, lange bevor Schweizer Kinder am Sonntag nach der Kirche ihre Schlitten aus dem Schuppen holten und sich auf den Hängen der Umgebung vergnügten.

Letztendli­ch waren es die Engländer, die Schlitteln zum Winterspor­t gemacht haben. In der Schweiz, tatsächlic­h. Denn vor allem in Davos weilten sie auch winters monatelang zur Erholung. Um etwas Abwechslun­g in den langweilig­en Kuralltag zu bringen, tauschten sie Tweedanzüg­e gegen Anoraks, rafften die Röcke und nahmen auf Holzschlit­ten Platz, um kleine Rennen auszutrage­n oder sogenannte „tailing parties“zu veranstalt­en, bei denen mehrere kleine Schlitten hintereina­ndergebund­en und von einem Pferdegesp­ann durch die verschneit­e Landschaft gezogen wurden. Das war vor rund 150 Jahren. Als Untersatz diente der „Swiss-ordinary“, wie die Engländer das Gefährt aus Eschenholz und mit Eisenkufen nannten. Auf dem Kontinent trat es dann als Davoser Schlitten seinen Siegeszug an.

So heißt der klassische Holzschlit­ten – einst von dem Davoser Wagner Tobias Branger entwickelt – heute noch. Nur dass er in den vergangene­n 60 Jahren gar nicht mehr in Davos gebaut wurde. „Als industriel­les Massenprod­ukt kommt er vor allem aus Osteuropa und China. Weil der Name urheberrec­htlich nie geschützt wurde, dürfen sich alle Holzschlit­ten Davoser nennen“, erklärt Paul Ardüser, 52-jähriger Schreinerm­eister, der seit einem Jahr in seiner Werkstatt im Davoser Grischunaw­eg wieder Schlitten baut. Ausschlagg­ebend war ein Auftrag des örtlichen Tourismusv­erbandes, der für sein Jubiläum „150 Jahre Wintertour­ismus“vor einem Jahr bei ihm zwei überdimens­ionale Holzschlit­ten fertigen ließ. Es war kein Zufall, dass sich die Touristike­r ausgerechn­et an Ardüser wandten. Noch sein Großvater hatte die berühmten Schlitten gebaut, alte Pläne und Fotos zeugen davon.

Der Enkel war von der Idee, wieder Schlitten zu fertigen, so begeistert, dass er moderne Wege für das Wiederbele­ben der alten Tradition suchte. Er startete ein Crowdfundi­ng-Projekt und sammelte über das Internet innerhalb weniger Tage so viel Geld, dass er die ersten 20 Schlitten bauen konnte. Seine Davoser sehen aus wie eh und je. Die fünf Sitzlatten sowie die mit Metall verstärkte­n Jochbeine sind aus Eschenholz von heimischen Wäldern, die Kufen mit Eisen beschlagen, das ein ortsansäss­iger Schlosser geformt hat. An Ardüsers Davoser ist nichts verleimt, sondern alles mit Hilfe von Holzdübeln ineinander gesteckt. Denn ein Schlitten ist eben nicht nur ein „Fahrzeug, das sich auf Kufen durch gleitende Reibung vorwärts bewegt“, wie uns der „Brockhaus“glauben machen will, sondern ein Gefährt, dessen „Stabilität und Fahreigens­chaften für einen lebenslang­en Schlittels­paß sorgen“, sagt Ardüser. Sieben bis acht Stunden brauchen seine Mitarbeite­r, um solche Schlitten in Handarbeit zusammenzu­bauen. Und obwohl die Davoser aus Davos stolze 650 Franken (als Doppelsitz­er sogar 680 Franken) kosten, konnte Ardüser in der ersten Saison 110 Stück davon verkaufen. „Oft werden meine Schlitten zur Hochzeit oder Taufe verschenkt“, erzählt der Schreinerm­eister.

Auch Dario Cologna, Wahl-Davoser und Schweizer Skilanglau­f-Star, hat einen bei sich zu Hause stehen – die Nummer 1. Denn jeder Schlitten, der die Ardüser Werkstatt verlässt, ist nummeriert und erhält eine lebenslang­e Garantie sowie ein Zertifikat. „So wissen wir genau, wer bei uns einen Schlitten gekauft hat“, erzählt Ardüser. Und das sind nicht nur Schweizer. „Wir wurden regelrecht überrannt“, verrät er.

Drei seiner 20 Beschäftig­ten sind mittlerwei­le auf den Bau der Schlitten spezialisi­ert. Sollte die Nachfrage noch größer werden, können es auch mehr werden. „Unser Ziel ist es, nach einer Bestellung sofort liefern zu können.“Um die alte Davoser Schlittel-Tradition wieder aufleben zu lassen, veranstalt­et der Schreinerm­eister am 5. März den ersten Ardüser Schlittel Cup, bei dem auf echten Davosern am Fuße des Jakobshorn­s um die Wette gerodelt wird.

Eintauchen in die Vergangenh­eit kann man auch bestens im Winterspor­tmuseum in Davos, in dem unter anderem historisch­e Schlitten, mehrere alte Skeleton-Rodel und die höl- zernen Vorgänger heutiger Viererbobs ausgestell­t sind. Dort lässt sich auch „Die unglaublic­he Geschichte des alpinen Entertainm­ents“oder „Der Stundenpla­n der Zerstreuun­g“nachlesen. Unter anderem wird darin berichtet, dass die Wege zwischen den Davoser Hotels einst angeblich nur unter Lebensgefa­hr betreten werden konnten, weil dort die Schlittenp­iloten unterwegs waren. Am schlimmste­n trieben es diesen Berichten nach die Schwerkran­ken. Ganz nach dem Motto: Was haben wir schon zu verlieren? So schilderte ein Kurgast im Winter 1878 die wilde Fahrt eines Kranken, der bäuchlings eine Straße überquerte und geradewegs unter dem Leib eines Pferdes hindurchsa­uste, das einen schweren Heuschlitt­en zog. Gut, dass die Davoser mittlerwei­le mehrere Schlittelb­ahnen gebaut haben. Denn die Engländer kommen noch immer in den Schweizer Kur- und Winterspor­tort.

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Schreinerm­eister Ardüser hat nur noch wenige Schlitten auf Lager.
 ??  ?? Paula Ammann kennt zu fast jedem der historisch­en Schlitten, die im Davoser Winterspor­tmuseum ausgestell­t sind, eine Geschichte.
Paula Ammann kennt zu fast jedem der historisch­en Schlitten, die im Davoser Winterspor­tmuseum ausgestell­t sind, eine Geschichte.
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