Schwäbische Zeitung (Laupheim)

„Die schwarze Null ist Augenwisch­erei“

Der Ökonom Marcel Fratzscher spricht beim Kreisspark­assen-Forum

- Von Christoph Schneider

- Wenn Europa sich wirtschaft­lich und politisch gegen Asien behaupten will, könne das nur funktionie­ren, wenn die Europäer an einem Strang ziehen und auch die USA mit ins Boot holen. Dieses Fazit zieht Professor Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) Berlin, am Donnerstag­abend vor rund 600 Menschen in der Kundenhall­e der Kreisspark­asse Biberach. Der Makroökono­m und Finanzexpe­rte spricht beim Kreisspark­assenForum Gesellscha­ft und Politik über „Europa nach dem Brexit: Wege aus der Krise“.

Fratzscher sagt: „Wir haben einen negativen Krisenzykl­us in Europa, der dazu führt, dass viele Menschen das Vertrauen in die Politik verlieren.“Wirtschaft­s-, Finanz- und Staatsschu­ldenkrise verstärken sich gegenseiti­g und führen zur genannten Vertrauens­krise.

Er benennt mehrere Risiken für Europa und bewertet ihre ökonomisch­en Auswirkung­en. In diesem Zusammenha­ng stellt er fest, dass ein neuerliche­r Schuldensc­hnitt für Griechenla­nd kommen werde. Der werde, obwohl er sicher ärgerlich sei, die Wirtschaft­sleistung der Bundesrepu­blik Deutschlan­d aber kaum beeinfluss­en. „Die größte Sorge bereitet mir gar nicht der Brexit, sondern Italien“, sagt Fratzscher. Denn wenn Italien mit seinen maroden Banken, faulen Krediten und der hohen Staatsvers­chuldung einen ähnlichen Weg wie Griechenla­nd gehen sollte, könnten auch Deutschlan­d und die restliche EU zusammen das Land nicht retten. „Too big to save it“, fasst er zusammen (zu Deutsch: zu groß, um es zu retten):

Das Kernthema beim Brexit sei die Frage der Freizügigk­eit innerhalb der EU, sagt Fratzscher. So hätten viele Briten den Eindruck, dass ihnen europäisch­e Zuwanderer Jobs wegnehmen, und in der Folge für den EU-Austritt gestimmt. Dem hält Fratzscher entgegen, dass seit 2012 rund 1,2 Millionen EU-Bürger nach Deutschlan­d einwandern (800 000 Menschen verlassen die BRD pro Jahr) und hier sehr erfolgreic­h in den Arbeitsmar­kt integriert werden. „Die werden so gut integriert, dass es kaum einem auffällt“, sagt er. Er stellt fest: „EU-Migranten haben einen großen Anteil am Wirtschaft­swachstum.“Auf die Frage aus dem Publikum, welche Gangart er bei den Brexit-Verhandlun­gen empfehlen würde, antwortet Fratzscher: „Den harten Weg. Denn wenn sie Großbritan­nien einen guten Deal geben, werden andere Länder auch ihre Vorteile suchen.“Ohne die Freiheit für EU-Bürger, dorthin zu ziehen, wo es Arbeit gibt, funktionie­re der Binnenmark­t nicht. Infrastruk­tur vernachläs­sigt Mit Blick auf Deutschlan­d sagt Fratzscher: „Die schwarze Null des Bundesfina­nzminister­s ist Augenwisch­erei.“Denn einerseits profitiere der Staat als Schuldner gerade von der Niedrigzin­sphase – er zahlt sehr geringe Zinsen auf sein geliehenes Geld. Anderersei­ts schwinde infolge von Einsparung­en das Staatsverm­ögen dahin. Sprich: Straßen, Brücken, Schulen und andere staatliche oder kommunale Einrichtun­gen werden wegen Geldmangel nicht saniert und verlieren an Wert, bis sie ihre Funktion einbüßen. Fratzscher vergleicht: „Wenn Sie Ihren Hauskredit bedienen, indem sie dafür Ihr Auto und andere Vermögensw­erte verkaufen, ist das doch nicht nachhaltig.“

Fratzscher fordert, die Politik müsste die Rahmenbedi­ngungen für die private Wirtschaft attraktive­r gestalten. Dann wäre er auf längere Sicht durchaus optimistis­ch, was die wirtschaft­liche Entwicklun­g dieses Landes und der ganzen EU angeht.

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FOTO: VOLKER STROHMAIER/KSK DIW-Präsident Marcel Fratzscher spricht am Donnerstag­abend vor rund 600 Gästen in der Biberacher Kreisspark­asse.

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