Schwäbische Zeitung (Laupheim)
Die Lieder bleiben
Noch immer gibt es kein Mittel gegen die Alzheimer-Demenz – Große Anforderungen an die Angehörigen
- Seitdem sie ihre Tabletten nehme, spreche sie weniger, sagt Manfred Kauschwitz. „Dafür ist sie auch weniger aggressiv“, erzählt der 86-Jährige. „Und wieder fröhlicher.“Seit einer gefühlten Ewigkeit ist der Rentner aus Ravensburg mit seiner Frau Marianne, jetzt 78 Jahre alt, verheiratet. Die Krankheit Alzheimer bestimmte das vergangene Jahrzehnt. 2006 hatte seine Frau Marianne die Diagnose erhalten.
Doch dass etwas nicht stimme, habe Manfred Kauschwitz, wie er hier bei der Ravensburger Selbsthilfegruppe für Angehörige von Menschen mit Demenz erzählt, schon viel früher bemerkt. „2002 waren wir bei einer Familienfeier“, erinnert sich Kauschwitz, der, genau wie seine Frau, eigentlich einen anderen Nachnamen hat. „Meine Frau war in heller Aufregung, sie war besorgt, dass den Kindern der Familie, die in der Nähe einer Baugrube gespielt haben, etwas zustößt“, erzählt er. „Auf der Heimfahrt war die ganze Aufregung weg. Sie hat mich sogar gefragt: 'Wo waren wir?’“
Von da an habe er immer öfter bemerkt, dass ihr Gedächtnis nachlässt, dass seiner Frau Dinge nicht mehr eingefallen seien, wie sie Probleme beim Einkaufen bekam. Irgendwann habe sie den Weg zur Friedhofskapelle in Weißenau, den sie jede Woche mit dem Auto gefahren war, nicht mehr gefunden. „Aber an die Lieder von früher, an die erinnert sie sich“, sagt ihr Mann. Die ersten Jahre haben sie noch im gemeinsamen Haus gewohnt, jetzt leben sie in einer DreiZimmer-Wohnung mit Betreuung.
Marianne Kauschwitz ist eine von rund 190 000 Personen in BadenWürttemberg, die an einer Demenz erkrankt sind. Bundesweit sind es ungefähr 1,6 Millionen. „Demenz“ist der Oberbegriff für eine Gruppe von Krankheiten des Gehirns, die Alzheimer-Erkrankung macht mit 70 Prozent den größten Teil aus.
Die Häufigkeit der AlzheimerDemenz zeigt sich auch in der Angehörigengruppe, die sich jeden dritten Mittwoch des Monats im AOK-Gesundheitszentrum an der Ulmer Straße in Ravensburg trifft. Gemeinsam lachen die Teilnehmer über das Gemecker, über die harschen Worte und blöden Sprüche ihrer Liebsten, die früher, vor der Diagnose Alzheimer, für Streit gesorgt hätten. Jetzt sorgen sie für wehmütiges Lächeln, als wären streitbare Charaktereigenschaften zu liebenswerten Marotten geworden. Denn sie erinnern an die Zeit vor der Krankheit, die die Menschen verändert, es sind die Konstanten, die geblieben sind.
So wie die Feststellung des 71-jährigen Alzheimerpatienten, seine Frau müsse „immer ihren Senf dazugeben“. Bei ihrer Schilderung, ihr Mann verbringe anderthalb Stunden im Badezimmer, um sich wieder und wieder zu waschen, entgegnet eine weitere Teilnehmerin: „Wir können Familientausch machen.“Sie berichtet von ihrem 73-jährigen Gatten, einem gelernten Schreiner, der zwar jeden Morgen Kreuzworträtsel löst, aber sich nicht erinnert, wie man einen Zaun repariert. Gestörte Kommunikation Auch wenn sich eine Demenz in Wesensveränderungen zeigt, „ist sie niemals seelisch bedingt“, sagt Jochen Tenter, Chefarzt der Alterspsychiatrie Ravensburg am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg. „Es steckt immer eine Gehirnerkrankung dahinter.“Für eine Demenz gibt es verschiedene Ursachen. Bei der Alzheimer-Erkrankung ist die Kommunikation zwischen den Nervenzellen des Gehirns gestört. Schuld daran sind „zwei Dinge, die relativ gut bekannt und aufgedeckt sind“, erklärt Tenter. Daneben gebe es aber viele Mechanismen, „bei denen es noch nicht so klar ist“.
Die Krankheit entdeckte Alois Alzheimer im Jahre 1906. In Gehirnproben verstorbener Patienten fand er Amyloid-Ablagerungen, die sogenannten „Plaques“. „Das ist Eiweißmüll, der sich zwischen den Zellen ablagert und der in einer Kettenreaktion immer mehr wird“, sagt Tenter. Diese Plaques werden durch eine fehlende „Eiweißschere“im Gehirn nicht abgebaut. Beim Erlernen oder Merken neuer Dinge verknüpfen sich Nervenzellen im gesunden Gehirn mittels Aussprossungen – bei Alzheimerpatienten steht der Eiweißmüll wie eine Barriere dazwischen. Diese Ablagerungen können bereits bis zu 30 Jahre vor dem Ausbruch einer Demenz auftreten, also im mittleren Lebensalter.
„Der andere Mechanismus nennt sich ,Tau-Pathologie’“, so Tenter. „Die Zellen reden miteinander, indem sie Botenstoffe aussenden. Diese lösen einen elektrischen Impuls aus und dieser wiederum die Aussendung weiterer Botenstoffe.“Diese werden im Zelllaib hergestellt und durch mikroskopisch kleine Kanäle an das andere Ende der Zelle transportiert. „Die Kanäle zerfallen bei der Alzheimer-Krankheit. Botenstoffe können zwar noch produziert werden, kommen aber nicht mehr an die Überträgerknotenpunkte. Dadurch verarmt das Muster an elektrischer Weitergabe.“ Fähigkeiten gehen verloren Beide Vorgänge lassen sich nicht aufhalten, die Alzheimer-Demenz schreitet immer weiter fort. Kognitive Fähigkeiten, Rechnen, Schreiben, Sprechen, Orientierung sowie das Gedächtnis, gehen immer weiter verloren. Im fortgeschrittenen Stadium sind die Betroffenen auf fremde Hilfe angewiesen, benötigen Unterstützung beim Ankleiden und Essen. Und erkennen ihre eigenen Angehörigen irgendwann nicht mehr, werden aggressiv oder apathisch.
Einer Alzheimer-Demenz vorbeugen kann man nicht. „Geistige und körperliche Aktivität können den Ausbruch aber etwas hinauszögern“, erklärt Tenter. Zudem gebe es Krankheiten, die Alzheimer begünstigen. Dazu gehören Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen und Diabetes. Denn oft ist die Gehirnschädigung durch Gefäßleiden nicht so eindeutig zu unterscheiden. Manche Wissenschaftler sagen, dass zumindest im hohen Alter Gefäßschäden und eine Alzheimer-Erkrankung fast immer gemeinsam vorkommen. Andersherum gilt daher: Was gut für das Herz ist, ist auch gut für das Gehirn, also Bewegung, ausgewogene Ernährung und kein Übergewicht.
Als erstes Symptom macht sich häufig die Vergesslichkeit bemerkbar. Dadurch, dass das durchschnittliche Erkrankungsalter bei 78 Jahren liegt, werde diese häufig als Alterserscheinung bagatellisiert, erklärt Tenter. Bis zu einem gewissen Grad sei diese auch normal. Man höre von Angehörigen, dass die betroffenen Verwandten bestimmte Dinge anders machen als vorher, „nicht mehr so ordentlich Kontoauszüge oder Rechnungen ablegen, Sachen sammeln, die man früher für wertlos gehalten hat, anfangen, sich körperlich zu vernachlässigen, ohne dass es selbstkritisch bemerkt wird, oder dass sie nicht mehr planen können und keine Fantasie mehr haben.“
Diese Beobachtungen seien wichtig für die Diagnose, erklärt Tenter. Daneben gibt es psychologische Tests, die Gedächtnis, Denkvermögen, Sprache und Wahrnehmungsfähigkeit der Betroffenen prüfen. Zusätzlich können Laboruntersuchungen des Nervenwassers oder Computerund Magnetresonanztomografie die Diagnose bestätigen. Wichtig sei laut Tenter, dass die Symptome mindestens ein halbes Jahr bestehen, da auch andere Krankheiten, beispielsweise eine schwere Depression oder eine Schädel-HirnVerletzung, einige Symptome hervorrufen können, wie zum Beispiel Aufmerksamkeitsstörungen und einen verminderten Antrieb. Krankheitsverlauf abmildern Ist die Diagnose gestellt, beginnt die Behandlung. „Es gibt aber derzeit kein Medikament, das diese Krankheit stoppen kann“, erzählt Lutz Frölich, Professor am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim und Leiter einer Alzheimer-Studie für das Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim. „Zugelassene Medikamente können den Verlauf abmildern und dafür sorgen, dass die Patienten sich besser fühlen, aber letztlich sind sie nur symptomatisch wirksam.“Diese Medikamente verbessern die Informationsübertragung der beiden Nervenbotenstoffe Acetylcholin und Glutamat. „Doch die Effekte, die sie hervorbringen, sind irgendwann so gering, dass sie nicht mehr relevant sind“, erklärt Frölich. Schwierige Suche nach Heilmittel Die Forschung nach einem Heilmittel gestaltet sich schwierig. Das Gehirn sei ein sehr komplexes Organ, durch den langen Krankheitsverlauf brauche man lange Beobachtungzeiten bei klinischen Studien. Derzeit halte man an der Hypothese fest, dass die Amyloid-Ablagerungen die zentrale Ursache der Hirnschädigung sind. „Man hat keine bessere Idee bisher“, sagt der Psychiater. Daher versuche man, Angriffspunkte zu entwickeln, um die Fehlverarbeitung dieses Eiweißes zu unterbinden. Zudem untersucht die Forschung weitere „Störungswege“, die zu Nervenzelluntergängen führen. Mediziner versuchen, Nervenwachstumsfaktoren auszumachen, die das Gehirn stärken können.
Doch obwohl „viele 10 000 Wissenschaftler versuchen, etwas Neues zu finden“und die Alzheimer-Forschung „eines der wichtigsten Felder neurobiologischer Krankheitsforschung“sei, ist eine Vorhersage, wann es ein Heilmittel geben könnte, schwierig. Selbst zunächst vielversprechende Entwicklungen wie das vom US-Pharmakonzern Eli Lilly erprobte Mittel Solanezumab erwiesen sich als wirkungslos. Ein guter Schritt Fortschritte mache die Wissenschaft laut Frölich vor allem bei diagnostischen Verfahren. „Die Forschung hat viele Dinge entwickelt, die helfen, die Krankheit mit hoher Sicherheit zu erkennen.“Das sei „ein guter Schritt“. Bis 2025, wie es der ehemalige US-Präsident Barack Obama einmal als Ziel ausgegeben hatte, werde es jedoch keine Heilung geben.
Die Krankheit Alzheimer wird also aller Voraussicht nach auch bei Marianne Kauschwitz nicht aufzuhalten sein. „Ich habe mich damit abgefunden“, sagt ihr Mann. Er werde jetzt bald Urlaub machen, alleine. Seine Frau wird in einer Kurzzeitpflege-Einrichtung auf ihn warten. Vielleicht wird sie nicht viel sagen, wenn ihr Mann sie nach seinem Urlaub wieder abholt. Dafür wird sie aber vermutlich ein Lied anstimmen.