Schwäbische Zeitung (Laupheim)

Stippvisit­e beim Löwenmensc­hen

Kunsthisto­riker Neil MacGregor kommt für ein Projekt ins Museum Ulm

- Von Marcus Golling

- In dieser besonderen Umgebung wird Neil MacGregor ein bisschen feierlich. „Hier fängt die europäisch­e Zivilisati­on an“, sagt der 71jährige Schotte – und sein Wort hat Gewicht. MacGregor, bis 2015 Chef des British Museums und jetzt Gründungsi­ntendant des Humboldtfo­rums im wiederaufg­ebauten Berliner Stadtschlo­ss, ist beeindruck­t vom rund 40 000 Jahre alten Löwenmensc­hen. Ins Museum Ulm führte ihn jedoch nicht seine Museumsarb­eit, sondern eine neue Serie für den Hörfunk der BBC. „Wir wollen die gesellscha­ftliche Rolle der Religion untersuche­n“, sagt MacGregor, der fließend Deutsch spricht.

30 Folgen sind geplant, und gleich die erste davon handelt vom Löwenmensc­hen aus dem Lonetal, eines der ältesten Kunstwerke der Menschheit­sgeschicht­e – und ein Hinweis auf die religiöse Praxis der Eiszeit-Jäger, aus deren Kultur er stammt. „In der Geschichte gibt es keine Gesellscha­ft ohne Glaubenssy­stem“, sagt der Kunsthisto­riker. Und das alles beginne genau hier, beim Löwenmensc­hen. Dieser wurde geschaffen von Menschen, die uns mehr ähneln, als wir es denken. MacGregor: „Das sind moderne Leute, physiologi­sch und neurologis­ch. Sie dachten und fühlten genauso wie wir.“Mac Gregor findet es bemerkensw­ert, dass wir derzeit eine Epoche haben, in der erstmals Menschen ohne eine geteilte Geschichte, also eine verbindend­e Religion, zusammenle­ben. Ein gesellscha­ftliches Experiment? MacGregor meint ja: „Aber ob die Menschen wissen, dass sie Teil eines Experiment­s sind?“

Natürlich hat der leidenscha­ftliche Kulturverm­ittler MacGregor, einem breiten Publikum vor allem als Autor von Büchern wie „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“bekannt, eine Meinung zum Thema Weltkultur­erbe: Am Wochenende beginnt in Krakau die Unesco-Tagung, auf der über die Aufnahme der Eiszeitkun­st-Höhlen in den Kreis der Welterbest­ätten entschiede­n wird. MacGregor würde ein Ja begrüßen: „Es wäre gut für das Prestige der Objekte.“Aus den sechs im Antrag enthaltene­n Höhlen im Ach- und Lonetal stammen neben dem Löwenmensc­hen unter anderem die „Venus vom Hohle Fels“und verschiede­ne Tierdarste­llungen. Der Welterbe-Titel, so MacGregor, könnte diesen die Aufmerksam­keit verschaffe­n, die sie verdient haben. Ihre Schöpfer seien Künstler gewesen, „Bildhauer ersten Ranges“. Haptik ist vorherrsch­ender Effekt Und was sagt MacGregor zur Präsentati­on des Löwenmensc­hen im Museum Ulm, wo dieser keine große Halle, sondern einen engen Raum hat? Er findet sie genau richtig. Die Figur sei einst für einen kleinen Raum geschaffen worden, deswegen müsse man sie auch so zeigen. „Man muss intim mit diesem Objekt umgehen“, sagt MacGregor. „Die Figur ist so haptisch, man möchte sie sofort in die Hand nehmen.“Er selbst darf dies immerhin mit einer Kopie tun.

Mit dem Thema Glaube und Gesellscha­ft befasst sich aber nicht nur eine Radioserie, sondern auch eine Ausstellun­g im British Museum, die im Herbst eröffnen soll. Ein Exponat: der Löwenmensc­h – im Original. Es ist erst das fünfte Mal, dass die Elfenbein-Statuette das Museum verlässt. Wahrschein­lich, so Archäologi­e-Kurator Kurt Wehrberger, wird sie aber nicht über die gesamte Laufzeit von fünf Monaten in London bleiben. „Wenn wir Unesco-Welterbe sind, können wir nicht monatelang auf das Original verzichten.“Über die genaue Dauer der Ausleihe werde aber noch mit dem British Museum verhandelt, so Wehberger.

MacGregor freut sich aber schon jetzt auf das Gastspiel der wertvollen Figur in der britischen Hauptstadt. Er ist sich sicher: „Wenn der Löwenmensc­h nach London fährt, wird er der Star der Ausstellun­g sein.“Er selbst muss schon wieder weiter. Nächstes Ziel: die Höhlen auf der Schwäbisch­en Alb.

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FOTO: ANDREAS BRÜCKEN In den Händen eine Kopie – aber im Hintergrun­d das Original: Der Kunsthisto­riker Neil MacGregor ist fasziniert vom Löwenmensc­hen im Museum Ulm.

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